· 

Kettenspiel

Wie lässt sich bloß diese bange Ungewissheit aushalten, in der man hofft, dass es durch den Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten zu positiven Veränderungen für die Ukraine kommt? Wie lässt sich das für die Betroffenen aushalten, über deren Köpfe weiterhin Drohnen fliegen, in deren Wohnorten Raketentrümmer einschlagen und die wissend beobachten müssen, dass Russland sich nicht schämt, die Sicherheit von Atomkraftwerken anzukratzen?

Ich denke, eigentlich lässt sich das nicht aushalten. Umso mehr staune ich, wie die ukrainische Zivilgesellschaft so tapfer ihren Alltag aufrechterhält und Zerstörtes immer sofort wieder instand setzt. Und bei all dem ganz bewusst ihre Kultur pflegt.

So hat mich diese Tage die neue Komposition des begabten Organisten Bohdan Demianenko sehr beeindruckt. Er hat sie im Gedenken an seine Freunde geschaffen, die nicht mehr von der Front zurückkehren können. Ihn selbst werden meine Leser, die "Schwester Jelenas Tränen" gelesen haben, bereits zuordnen können. Wir lernten ihn während unseres Dienstes in St. Katharina/Kyjiw kennen, wo er sich längere Zeit engagiert als Kirchenmusiker mit einbrachte. Er ist tiefgläubiger Christ und überzeugter Pazifist. Als solcher leistete er mit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine dennoch seinen Beitrag zur Verteidigung Kyjiws, indem er sich an der Errichtung von Barrikaden beteiligte.

Das Stück "Monolog für Orgel. Tröpfchen auf dem Schnee" nimmt den Hörer mit seinen nur hier und da in warmen Wohlklang eingestreuten Dissonanzen in die schmerzvolle Liebe der Ukrainer zu ihrer großen, ukrainischen Familie mit. Hören und den Musiker selbst in Aktion erleben könnt Ihr auf seinem YouTube-Kanal, das betreffende Video findet Ihr hier:

 

https://www.youtube.com/watch?v=-fKIPT0fnZo

 

Bemerkenswert daran ist unter anderem, dass er das Stück auf einer besonderen Orgel spielt: Sie ist im Hauptbahnhof der Stadt Lviv zu finden. In ihr hat die ukrainische Künstlerin Zhanna Kadyrova Teile russischer Raketen als Pfeifen eingebaut. Welch besondere Umsetzung des Gedankens von "Schwertern zu Pflugscharen" in diesem gepeinigten Land!

 

Gestern abend hatte ich wieder Gelegenheit an einer Online-Übertragung der ukrainischen Dichtergruppe "Gesamtukrainische Poetische Familie" teilzuhaben. In der aktuellen Sendung des Formats "Teplomist" (Wärmebrücke), das Dichter aus weit voneinander entfernten Regionen der Ukraine miteinander verbindet, interviewte Vasyl Scherbiuk aus der Umgebung von Kyjiw die Dichterin Maryana Salo, eine junge Lehrerin aus der Region Lviv. Wie ich diese faszinierenden Persönlichkeiten dafür bewundere, dass sie trotz verstörender Entwicklungen bezüglich der Zukunft ihres Landes (seit der Münchner Sicherheitskonferenz auch vonseiten der amerikanischen Regierung) so viel zugewandte Herzlichkeit und ermutigende Heiterkeit ausstrahlen!

Ich hatte mein Gerät nicht pünktlich eingeschaltet, die Sendung war schon im Gange. Doch kaum stieß ich dazu, da hörte ich zu meiner Überraschung, wie Vasyl mich sogar persönlich begrüßte:

"Uns hört heute auch aus Deutschland unsere Charis Haska zu! Herzlich willkommen!"

Zwischen 26 und mehr als 31 Zuhörern nahmen gestern an der Sendung teil, die wie alle Aktionen der Dichtergruppe ehrenamtlich organisiert wurde. Und es hätten sich bestimmt noch mehr Zuschauer dazugesellt, wenn es nicht das ständige Problem gäbe, dass viele Regionen nach wie vor nur stundenweise Strom haben, andere Teilnehmer wieder mal im Luftschutzbunker warten, oder ihrer Arbeit nachgehen müssen. Sehr flexibel band Vasyl die Fragen des Publikums mit ins Interview ein. So wollte zum Beispiel eine Dichterin wissen, ob Maryana ab und zu ihren Schülern eigene Gedichte vortrage. Hin und wieder tut sie das, worauf sie dann erstaunliche Reaktionen bekommt, zum Beispiel: "Pani Maryana, darf ich Ihr Gedicht auswendig lernen?"

 

Für mich ist es natürlich immer besonders interessant zu erfahren, unter welchen Bedingungen ukrainische Kollegen schreiben. Auf die Frage, was sie besonders inspiriere, antwortete Maryana mit gewinnendem Lächeln: "Die Natur. Der Mond. Die Sterne. Und die Musik." Und mit nur einem Handgriff hatte sie schon reizende Zeilen zum Auftritt eines Saxophonisten bereit.

Sehr bewegt hat mich, wie sie uns ein Gedicht über Träume in einer Mondnacht vortrug. Eine Zeile daraus geht mir nicht mehr aus dem Sinn: "Aber das größte Wunder ist doch, dass wir leben." Das Motiv, den Soldaten an der Front dafür zu danken, dass man selbst sich in der Nacht eines ruhigen Schlafes erfreuen durfte, kehrt verständlicherweise in all diesen literarischen Angeboten und Begegnungen immer wieder. Über konkrete Ereignisse des Kriegsgeschehens schreibt Maryana Salo allerdings wenig. Es wühlt sie zu sehr auf. Als sie das vor ihrem Publikum zugibt, schimmern ihre Augen feucht.

 

Diese FB-Dichtergruppe ist schon großartig! In den vergangenen Tagen hat sie mich mit einem neuen, spannenden Literaturwettbewerb in ihren Bann gezogen: Das Kettenspiel!

Eine liebe Freundin beschenkte mich 2015 zum Abschied mit dieser schönen Kette. Den Trisub, das ukrainische Staatswappen, der hier in einem silbernen Strahlenkranz zu sehen ist, kennt Ihr wahrscheinlich schon. Er besteht aus den vier künstlerisch zusammengezogenen Buchstaben des ukrainischen Wortes ВОЛЯ (FREIHEIT). Dies Kettchen und meine Trisub-Ohrringe - so habe ich es mir vorgenommen - sollen der einzige Schmuck bleiben, den ich trage, bis der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine endlich aufhört.

Im Ukrainischen hört sich das Wort für "Kettchen" übrigens wesentlich poetischer an, als im Deutschen. Es heißt ланцюжок. Für mich schwingt darin das Zierliche, Feine, klar Abgegrenzte einer Lanzette mit.

Ukrainerinnen tragen, soweit ich es erlebt habe, gerne Schmuck. Und sie verstehen es, ihren Alltag zu schmücken:

 

Da begrüßte zum Beispiel die Dichterin Maryna Zozulya am frühen Morgen des 3. Februar die zahlreichen Poetinnen und Poeten der Gesamtukrainischen Poetischen Familie mit folgendem reizvollen Wettbewerb:

 

"Guten Morgen, liebe Freunde!

Die 52. poetische Woche spielen wir das Spiel "Поетичний ланцюжок" ("POETISCHES KETTCHEN")

 

Spielregeln:

Am Montag legen wir Administratoren ein Gedicht vor. Die Teilnehmer schreiben dazu ein Gedicht, das mit der letzten Zeile des vorangegangenen Gedichts beginnt. Der Autor jenes Gedichts darf den Gewinner des Tages bestimmen.

Und am folgenden Tag werden wir Gedichte verfassen, die mit der letzten Zeile des Gedichts beginnen, das gewonnen hat. So wird die Kette bis zum Wochenende fortgesetzt. Ob Ihr nun in einer vorgegebenen Form schreibt, oder ob es ein einfaches Gedicht wird, dürft Ihr selbst entscheiden. Jeder von Euch hat seine eigene Sicht von Sätzen. Und seine Technik. Macht Euch an Eure schöpferische Arbeit, kreative Freunde!"

 

Ich denke dabei sofort an meine Abende mit unserer lieben Schreibgruppe Wortwerk Fichtelgebirge, deren fester Bestandteil immer eine Hausaufgabe war, die wir Teilnehmer bis zum nächsten Monat erledigen sollten. Und eine spontane Schreibaufgabe, die in einer vorgegebenen Zeitspanne vor Ort zu bewältigen war. Was habe ich mich da manchmal gequält, um in der kurzen Zeit irgendwie einen klaren Gedanken zu fassen und den in eine möglichst lyrische Form zu bringen ...

 

Ein Gedicht, bei dem die erste Zeile vorgegeben ist, das ist schon eine besondere Herausforderung. Denn da besteht ja sowohl eine inhaltliche Notwendigkeit, als auch die Verpflichtung, dem Versmaß und Endreim der Zeile entsprechend das Vorgegebene weiter zu führen.

Meine spontanen Versuche gerieten damals oft sehr holprig. Das Zeitfenster vom Morgen bis zum Abend, die den ukrainischen Poeten für die Tagesaufgabe bleibt, ist nicht gerade umfangreich. Besonders angesichts der heftigen Anforderungen ihres Alltags.

Zweifelnd wiegte ich den Kopf: Ob dieses komplizierte Experiment wohl gelingen wird?

 

 

Aber natürlich doch! Es kamen zahlreiche, zauberhafte Einsendungen. Wenigstens den aus den Gewinnerbeiträgen entstandenen Gedichtzyklus möchte ich Euch nun in meiner Übersetzung vorstellen.

Ich weise darauf hin, dass ich in meiner Übersetzung die vorgegebene Anfangszeile aus Gründen des Versmaßes nicht immer wortgleich mit der Schlusszeile des vorangegangenen Gedichts wiedergegeben habe.

 

Aber nun seht und genießt selbst!

In der weißen Weite silbriger Schneefelder,

Verbirgt sich Erinnerung an die Kindheit,

Dort steht der Apfelbaum und auch das Elternhaus,

Der Weidenzaun dort, der Kamin über´m Strohdach.

 

 

Frosttagen des Winters war´n wir gewachsen,

Denken wir nur an Filzstiefel, Pelzjacken,

In tiefsten Schnee tauchten mutig wir ein,

Und später schmiegten wir uns an den Ofen.

 

 

Der Ofen lockte uns nicht nur mit Wärme,

Nach Wundern, nach Märchen duftete er,

Mit seinem Knistern erstaunte er uns,

Das lustig mit uns sein Versteckspiel trieb.

 

 

Mit warmer Decke bereitet die Ofenbank,

Großmütterchens Hände voll Liebe dazu.

Zum Abend ein köstliches Mahl: Frisches Brot mit Milch,

Und unser Schnurrkater ruht´ auf dem Schaffell.

 

 

Und klar blickt der Mond durchs gefrorene Fenster,

Den Sternen singt er schon ihr Wiegenlied …

Bis heute noch träumt mir oft sanft meine Kindheit,

Und ich dank dem stillen Morgen dafür.

 

 

Antonina Pidmohylna

3.2.2025

 

 

ВПР_52_поезія_понеділок

 

У білій безодні сріблястих снігів,

Дитинства ховається спомин,

Там сад яблуневий і хата батьків,

І тин, і над стріхою комин.

 

Нам зими морозні були до снаги,

Згадаймо і валянки й шуби,

Пірнали сміливо в глибокі сніги,

А потім горнулись до груби.

 

Нас вабила груба не тільки теплом,

Бо дихала диво- казками,

А ще дивувала вона цвіркуном,

Що грався у хованки з нами .

 

Лежанка застелена теплим рядном,

І лагідні руки бабусі,

Вечеря смачна- свіжий хліб з молоком,

І кіт воркотун на кожусі.

 

І місяць ясний у морознім вікні,

Співає зіркам колисанку...

І досі дитинство я бачу вві сні,

І дякую тихому ранку.

 

Антоніна Підмогильна

3.2.2025

 

 

Ich danke dem stillen Morgen -

Der noch mit dem hängenden Bergahorn träumt …

Ich sticke, steck fest den seidenen Vorhang,

Lass in Gedanken den Augenblick schaukeln,

 

Wenn die graue, schmerzvolle Vogelschar

Uns Frühlingslieder gebracht in die Laken.

Und glücklich zwitschert aus voller Brust

Und Frühlingsgefühle mir zulächelten,

 

Zulächeln mit kleinen Schneeglöckchen,

Dem feinen Spinnweb der Wärme!

Mit dem heiligen Erbe der Eltern

Könnt´ ich die Welt erfüllen!

 

Natalya Topolnyzka

4.02.2025

 

 

#ВПР_52_поезія_вівторок

 

Я дякую тихому ранку —

Похнюпленим явором снить…

Гаптую шовкову фіранку,

Вигойдую подумки мить,

 

Коли сіре зболене птаство

Несло нам веснянки в рядні.

Кричало щасливо, грудасто,

А весни всміхались мені!

 

Всміхались малим первоцвітом,

Тонким павутинням тепла!

Батьківським святим заповітом

Наповнити світ я змогла!

 

Наталя Топольницька

4.02.2025

 

 

Könnt´ ich die Welt erfüllen?

Gelang´s eben erst, oder schien es nur so,

Dass um mich weniger Böses ist,

Und mehr von den Ähren der Liebe.

 

Meinen Zweifel verzeiht mir,

Und Schwermut, die zwischen Schwarz-Weiß.

Denn besser ist´ s, über ein Stoppelfeld gehen,

Als über die Brücklein der Illusion.

 

Es kommt vor: Ein Blick wie aus Eis,

Das Herz - ein Fisch, der zum Trocknen bestimmt.

Ja, womit soll ich denn erfüllen die Welt,

Die bis zum Grunde die Seele ängstet?

 

Lyubov Benedyshyn

5.02.2025

 

 

Наповнити світ я змогла?

Чи може, це тільки здалося,

Що менше довкруж мене зла,

І більше любові-колосся.

 

Мій сумнів пробачте мені,

І сум, що між білим і чорним.

Бо краще іти по стерні,

Аніж по містках ілюзорних.

 

Буває: і погляд, як лід,

І серце - як риба об сушу.

Та чим я наповнюю світ,

До дна вивертаючи душу?

 

Любов Бенедишин

5.02.2025

 

Verletzlichkeit

 

Die bis zum Grunde die Seele ängstet ...

Du stehst da wie nackt - so verletzlich.

Als sei dir die panzernde Rüstung genommen,

Und durchscheinend wurdest du … sichtbar.

 

Bis zum Grunde zugänglich und erreichbar,

Schutzlos im Augenblick der Enthüllung.

Ein zitterndes Vöglein in jemandes Faust,

Wirst du durch´s Schicksal erwärmet noch werden?

 

Wird finden die Seele denn ein warmes Wort,

Ein ersehntes, in des Zusammenklangs Antwort?

Der Wind der Gleichgültigkeit aus den Ähren

Reißt gleichsam das Korn wie die Spreu heraus …

 

Die bis zum Grunde die Seele ängstet,

Als wenn du das Herze in Stücke mir reißt.

Denn das heißt sich freiwillig kreuzigen lassen -

Du weißt, es ist Schmerz … Und weißt doch: Du musst!

 

06.02.2025

 

©Т. Івусь

 Tamara Iwus

Ранимість

 

До дна вивертаючи душу,

Стаєш ніби гола -- ранима.

Мов знята броні шкаралуща,

Й ти стала прозора і... зрима.

 

До самого денця відкрита,

Беззахисна в мить одкровення.

Пташинко тремка в чиїйсь жмені,

Чи долею будеш зігріта?

 

Чи знайде душа тепле слово,

Жадане в одвіт суголосся?

Байдужості вітер з колосся

Зриває й зерно, як полову…

 

До дна вивертаючи душу,

Ти ніби рвеш серце на шмаття.

Бо це добровільне розп'яття --

Ти знаєш: це біль... Але мусиш…

 

06.02.2025

 

©Т. Івусь

 

Тамара Івусь

 

Du weißt, es ist Schmerz … Und dennoch musst du ihn tragen.

Für jemanden ist´s ein Gewicht, für dich: Eine Feder.

Du fliegst … Und du fragst nicht: Wozu und wofür?

Weil du glaubst, dass schon Licht dort im Tunnel die Wende bedeutet.

 

Dich inspiriert die Aufrichtigkeit der Gedanken,

Vom Weinen gerötet, Eröffnung der besten Absichten.

Du weißt, es heißt Schmerz. Doch du tust deinen Schritt

In die sonnigen Tage, wo Löwenzahndickichtes Illusion.

 

Dich selbst siehst du nicht in den gekrümmten Spiegeln,

Dein Abbild ist einig mit sich, wie ein Fingerabdruck.

Du hältst deine Unwiederholbarkeit in deinen Händen …

Du denkst, dieser Schmerz ist keinesfalls daran schuld.

 

Und anzunehmen das Leben, sei leicht wie die feine Feder,

Das inspiriert dich zu Reimen in deinem Gedicht.

Doch in der Nähe webt schon die Spinne unaufhaltsame Zeit …

Und weniger Jahre liegen nun vor dir, nicht mehr.

 

Valentyna Hryshko

7.02.2025

 

 

Ти знаєш: це біль. Але мусиш носити його...

Це гиря для когось, для тебе – пір'їна.

Летиш... Не питаєш: навіщо й чого?

Бо віриш, що світло в тунелі – це зміни.

 

Тебе надихає відвертість думок,

зарюмсаних проявів намірів кращих.

Ти знаєш – це біль. Але робиш свій крок

у сонячні дні, де кульбабові хащі.

 

Себе ти не бачиш в кривих дзеркалах,

твій образ, мов пальців відбиток, єдиний.

Свою неповторність тримаєш в руках...

Вважаєш, що біль цей ні в чому не винний.

 

Життя сприйняття, як пір'їна, легке,

воно надихає на рими у вірші.

А поряд павук час нестримний плете...

Попереду менше років, а не більше.

 

Валентина Гришко

7.02.2025

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0