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Weihnachten. Würde wahren.

Die Kirche meines neuen Wohnortes Herzberg (Mark), hier an einem stürmischen Dezembertag im Morgenlicht zu sehen, ist eine Wehrkirche aus dem 13. Jahrhundert. Hinter ihren starken Mauern waren die Dorfbewohner einst vor feindlichen Angriffen sicher. 

Am Morgen des 20. Dezember 2024, also am Tag nach dem Nikolaustag gemäß dem julianischen Kalender (an dem die russisch orthodoxe Kirche ihr Kirchenjahr orientiert), beschädigte ein russischer Raketenangriff die katholische Kathedrale St. Nikolaus in Kyjiw und legte die auf sie zu führende Straße in Schutt und Asche. Wie sehr würde ich mir für alle Ukrainer unüberwindlich starke Kirchenmauern wünschen, hinter die sie sich zurückziehen und dort in Sicherheit sein könnten. Doch leider kennt das russische Terrorregime keinen Respekt vor dem, was Menschen heilig ist.

Wie die Verteidiger an der Front die Advents- und Weihnachtszeit 2024 erleben, davon berichtet die Dichterin Tetyana Woloshina im folgenden Gedicht. Der Ausdruck "Nullpunkt", den sie hier von einem Soldaten übernimmt, beleuchtet für uns deutsche Leser plastisch die winterlichen Bedingungen dort, wo der Kampf tobt. Im Ukrainischen ist er aber zugleich und zuerst die Bezeichnung der Position an der vordersten Front.

 

 

Hier, am Nullpunkt, so schrieb ein Soldat von der vordersten Front,

Denkst du nicht an den Tod. Er kommt schon von selbst …

Tappt hinter dir her als ein Schatten, als Teufel …

Und selbst der Schützengraben - ist hier kein Schützengraben mehr.

Ein Sarg!

 

Hier, am Nullpunkt, denkst du nicht an das Fest,

Daran, ob das Geld dir noch reicht für die Gäste,

Ob die Jugend denn wieder zum Sternsingen geht,

Ob Gott denn noch Schnee schicken wird auf die Erde.

Heeee!

 

All das ist deiner gold´nen Gedanken nicht wert.

Unter dem Feind, wo die Wälder verstummten,

Begleitet dich nur noch ein einziger Wunschtraum:

Wenn schon zum Tode -  so mögen die Deinen dich wenigstens finden.

 

Tetyana Woloshina

17.12.2024

 

 

 

Тут, на нулю, писав солдат із фронту,

Не думаєш про смерть. Вона сама...

Тупцює за тобою тінню, чортом...

І вже й окоп — то не окоп.

Труна!

 

Тут, на нулю, не думаєш про свято,

Про те, чи досить коштів на гостей,

Чи буде молодь знов колядувати,

Чи снігу Бог пошле на землю .

Еееей!

 

Це все не варте думки золотої.

Під ворогом, де не шумлять гаї,

Єдина мрія, що завжди з тобою:

Якщо на смерть — то хай знайдуть свої.

 

 

Tetyana Woloschina

17.12.2024

 

 

Wie die auf dem Foto zu bestaunende Klosterkirche St. Trinitatis in Neuruppin eine Stätte der Kirchenmusik ist, dient auch die Kathedrale St. Nikolai in Kyjiw als besonderer Ort der Musik und Kultur. Zu sowjetischen Zeiten war sie die nationale Konzerthalle der Ukraine, das Haus der Orgel und Kammermusik. Den erneuten Raketenangriff kann man also auch als einen weiteren Angriff gegen die ukrainische Kultur deuten. Seit der Revolution der Würde, die im November 2014 mit dem Euromaidan begann, haben die Ukrainer immer wieder  bewiesen, dass sie dem russischen Unrechtsregime weit mehr entgegensetzen können, als blanke Waffen. Auf vielfältige Weise stärkten Musiker, Künstler und Literaten voller Erfindungsreichtum die Identität der Bevölkerung und damit ihr Durchhaltevermögen.

Damals, auf dem Maidan geschah das mit Konzerten und Lesungen, aber auch damit, dass erbeutete Schilde der paramilitärischen Einheiten kurzerhand mit Kunstwerken bemalt wurden (mehr dazu kann man in meinen Büchern "Nachts zittert das Haus" und "Schwester Jelens Tränen" nachlesen).

 

Instagrameintrag von Kyjiw_life_ :

"Die katholische Kirche St. Nikolaus vor und nach dem Raketenangriff"

 

 

 

 

Was gibt den Menschen in der Ukraine heute Kraft zum Durchhalten?

Hier nur eins von vielen Beispielen:

In der Facebookgruppe Gesamtukrainische Poetische Familie engagiert sich zurzeit die Dichterin Maryna Sosulya aus dem Charkiwer Oblast besonders, indem sie fast wöchentlich neue Themen für den Literaturwettbewerb "Das beste Gedicht der Woche" vorschlägt und sich intensiv an der Auswertung der eingereichten Beiträge beteiligt.

Für die Woche vom 8. bis zum 15. Dezember lautete ihre reizvolle Aufgabenstellung, ein ungewöhnliches Paar auf einem märchenhaften Winterball zu beschreiben, "ein Paar, das eigentlich gar nicht zusammenkommen könnte", wie zum Beispiel Dracula mit Scarlett oder Gadsby mit Hermione. Im Gedicht sollten die Worte  ВАЛЬС, ПРИСТРАСТЬ, МАГІЯ und ЧАРИ (also Walzer, Leidenschaft, Magie und Zauberkraft) eine Rolle spielen und unbedingt vorkommen.

Maryna Sosulya, selbst eine Meisterin darin, Gedichtformen jeglicher Epochen kunstvoll in geschliffener Sprache und mit fesselnden Themen mit Leben zu füllen, bietet den Gruppenmitgliedern an, sich auf diese Weise vom Grauen der Gegenwart ein wenig abzulenken. Welch beeindruckende Methode, den bedrohlichen Winter mit den Kräften der Phantasie und der Stärkung des eigenen Talents zu erwärmen!

 

Mir hat das Gedicht von Oksana Klech, die im Wettbewerb den zweiten Preis errang, besonders gut gefallen. Ich nehme doch an, dass ich zur Baba Jaga nicht viel erklären muss, jedenfalls nicht denen, die russische Märchenfilme kennen ... Auf meine Nachfrage, ob Oksana Klech sich für das Gedicht von Shakespeares Sommernachtstraum habe inspirieren lassen, ließ sie mich wissen, es sei einfach eine Improvisation zum gestellten Thema. Obwohl sie in der Tat Shakespeares Werke sehr liebe. Ich finde, das merkt man auch an ihren kraftvollen Formulierungen und der pfiffigen Bemerkung am Schluss des Gedichts.

 

 

Die Ukrainer wissen viele Weisen, für ihre Würde und Freiheit einzustehen und werden sich von Russland nicht zu Sklaven degradieren lassen. Möge ihnen dazu Gottes weihnachtliche Schöpferkraft zuteil werden, mögen sie von Ihm wie von starken, unüberwindlichen Mauern geschützt sein!

 

 

 

 

Amor, der Unruhestifter

 

Im Winkel ruhte der Mörser, der Besen,

Kristallene Kronleuchter funkeln

Und es erklingt ein WALZER, eine feine Melodie,

Sieh, einen wundersamen Tanzschritt gibt vor der Spielmann,

Bringt enthusiastisch seine Liebeshymnen dar.

 

Ein krummes Bein hüpft mit im Takte,

Die Einsame, ein grauer Umriss dort im Winkel,

Und dieses Lächeln: In ihm ist Bosheit, ist Zorn und ist Falschheit,

Die Jaga hat niemand zum Tanz aufgefordert,

Vergeblich hat sie mit Perlen die Bluse bestickt.

 

Ein Tumult, ein seltsamer, erhob sich plötzlich:

Romeo, Schönling, wie schmelzen die Fräulein,

Ein solcher Bräutigam ist nicht alltäglich.

Der Störenfried Amor, was für ein Schelm,

Richtet aus Pfeile MAGISCHEN ZAUBERS.

 

Und LEIDENSCHAFT, überirdisch, entbrannte,

Im Kreis wirbelt Romeo die glückliche Jaga,

Vergessen sind Zwiste, Verrat und der Aufruhr,

Und solches wirst sicher nicht alltäglich sehen:

Jagusja, sie lächelt verführerisch.

 

Und noch ehe verflogen die KRAFT des Zaubertranks,

Packte sie Romeo schnell in den Mörser,

Flink in den Wald. Über Wolkenhöhen sie flogen,

Weckten der Leidenschaft Wunderglut,

Um die Hand der Jaga hielt Romeo an.

 

Eine seltsame Pirouette des Schicksals,

Oder doch tollwutgefährliche, MAGISCHE Schleier?

Es gewöhnte sich Romeo an Bouletten und Krautwickel,

An sein tägliches Liebesgedicht für die liebe Jagusja,

Und den Kaffee am Bett und brennende Küsse.

 

Oksana Klech

14.12.2024

 

В кутку спочили ступа і мітла,

Іскряться кришталеві канделябри

І лине ВАЛЬС, мелодія тонка,

Он монестрель втинає дивні па,

Виспівує коханню дифірамби.

 

 

Крива нога підстрибує у такт,

Самотня, сіра постать у куточку,

І посмішка: в ній злоба, гнів та фальш,

Ніхто Ягу не запросив на вальс,

Дарма розшила бісером сорочку.

 

 

Зчинилась раптом дивна метушня:

Ромео, красень, панночки аж мліють,

Такий жених буває не щодня.

Амур бешкетник, те ще бісеня,

Ладнає ЧАРІВНІ МАГІЧНІ стріли.

 

 

І спалахнула ПРИСТРАСТЬ неземна,

Ромео закружляв Ягу щасливу,

Забуті чвари, зради, метушня,

Й таке побачиш певно не щодня,

Ягуся посміхається звабливо.

 

 

І доки трунку не розвіявсь чар,

Ромео швидко спакувала в ступу,

Швиденько в ліс. Злетіли вище хмар,

Розбурхали кохання дивний жар,

Ромео попросив Ягуні руку.

 

Такий от долі дивний пірует,

Чи МАГІЇ скажені візерунки.

Ромео звик до голубців й котлет,

Щодня Ягусі про любов сонет,

У ліжко кава й запальні цілунки.

 

Оксана Клех

14.12.2024

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Anselm Rapp (Samstag, 21 Dezember 2024 14:33)

    Sehr berührend. Vielen Dank!