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Weit hinter den Horizont

Ob es für eine Mutter Schlimmeres geben kann, als die Verbindung zu ihrem Kind zu verlieren, das sie in steter Gefahr weiß? Die Dichterin Lidia Myshtschenko, nur ein knappes Jahr älter als ich, hat seit Kriegsbeginn so gut wie all ihre Gedichte ihrem Sohn gewidmet, der seit den ersten Kriegstagen an der Front im Einsatz ist. In einem Gedicht, das demnächst in meiner ukrainischen Gedichtsammlung erscheinen soll, beschreibt sie in bewegenden Worten ihre Vision vom Ende des Krieges: Wie das Gartentor quietscht und die Rückkehr ihres Sohnes meldet. Wie sie ihm hilft, den schweren Rucksack von den Schultern zu nehmen. Und wie ihre Tränen sich in der ersten innigen Umarmung mit dem Straßenstaub auf seiner Uniform mischen.

Kürzlich ist ihre Verbindung zu ihm abgerissen. Er gilt als vermisst. Als ich vor wenigen Tagen Facebook öffne, finde ich ihr folgendes Gedicht, schon morgens um 6.07 Uhr in die ukrainische Dichtergruppe gestellt, mit der ich Kontakt halte. Beim Lesen habe ich meine eigen Söhne vor Augen, stark, entschlossen, aber auch verletzlich. Und so zerreißt die Vorstellung, uns könnte es so ergehen, mir fast das Herz: 

 

Schreib mir doch, ruf mich an, ein kleines Zeichen gib mir.

Wo man dich suchen kann - gib mir doch einen Wink.

Lass von dir hören, denn ohne dich halt´ ich es nicht mehr aus.

Denn ohne dich ist mein Leben am äußersten Rand.

 

Komm zurück, bitte, schmiege dich an meine Schulter.

Bring diesen Albtraum zum Stehen am helllichten Tag.

Denn ohne dich brennt mir vor Schmerz meine Seele …

Denn ohne dich leb ich nicht mehr, bin ich tot.

 

#ЛідіяМищенко

 

Lidia Myshchenko

20.11.2024

 

 

 

***

 

Напиши, подзвони, дай хоч знак.

Де шукати тебе, підкажи.

Обізвись, бо без тебе ніяк.

Бо без тебе життя на межі.

 

Повернись, пригорнись до плеча,

Зупини цей кошмар наяву.

Бо без тебе згорає душа...

Бо без тебе і я не живу.

 

#ЛідіяМищенко

 

 Лідія Мищенко

20.11.2024

 



 

 Wie muss man sich eigentlich das Leben an der Front vorstellen, dort, das Leben und die Freiheit des geliebten Landes verteidigend, weit hinter dem uns bekannten  Horizont?

 

Die Dichtergruppe Gesamtukrainische Poetische Familie hat jüngst in einem ihrer Online-Formate ein Interview mit dem jungen Dichter Fedir Rudy aus Browary organisiert. Er ist für kurze Zeit Zuhause, ehe er an die Front zurück kehrt. In der Liveübertragung hat er auch etliche seiner Gedichte vorgetragen. Ein bescheiden auftretender junger Mann ist er, der auf die Fragen von Natalia Fogel in ruhigen, ausgeglichenem Ton antwortet. Bei allem Schweren, was er erlebt, strahlt er aber eine große Zuversicht aus. Einfach bewundernswert!

 

Ich habe mich erst gegen Ende der Übertragung zugeschaltet, doch seine Gedichte ziehen mich sofort in ihren Bann. Sie geben Anteil an dem, was das Leben dort schwer macht, aber auch an dem, was die Männer ermutigt, standhaft zu bleiben.

Wenn er im folgenden Gedicht über Kinderzeichnungen für die Soldaten Namen weltbekannter Künstler aufzählt, so denkt er zumindest bei den Namen da Vinci und Dali an die gleichlautenden Rufzeichen sehr bekannter, leider bereits gefallener Verteidiger des Vaterlands. Dem Dichter Maksym Krywzow war das Rufzeichen "Dali" zugeordnet.

 

 

 

 

Zeichnungen für Gott

 

 

Diese Zeichnungen und Briefe,

die sie an die Front schicken

unsere neuen da Vincis und Dalis

unsre eig´nen Monets und Shakespeares

ukrainische Faulkners und Hugos

talentierte Nachkommen

des Kosakengeschlechts

die angesichts der Umstände noch besser sein werden

als all die aufgezählten

Künstler jenseits der Grenzen

schenken Hoffnung

denn sogar, wenn wir nicht überleben

wenn es uns nicht bestimmt ist

so wird es doch wenigstens dieser Generation

ganz gewiss gelingen

 

Selbstverständlich haben diese Arbeiten

eine sakrale Wirkmächtigkeit

sogar die unerschütterlichen Männer im Schützengraben

kleben sie an die Wände in Beobachtungsposten und im Unterstand

und tragen sie als Amulett mit sich

damit sie verteidigen und sich erinnern

an die heimischen Städte und Häuschen

die feuchten Augen der Kamillenblüten

und die Erde, rot vom Mohn.

 

Und es ist nicht schlimm

wenn sie ausbleichen mit der Zeit

vor Ausweglosigkeit und vom Verlust

oder unabsichtlich verbrennen

in Umarmungen im Artilleriebeschuss

mit dem Unterstand und ihrem Besitzer

und vielleicht sogar mit seinem Kater

oder die Kugel, die den Brustpanzer durchschlägt

verdirbt die Zeichnung

färbt mit etwas ganz rot

die blau-gelben Felder

das ist nicht so schlimm

denn so ist der Krieg

 

Aber schlimm ist es, wenn

diese Bilder und Briefe fliegen

wie Papierflieger

ihrem Urheber hinterher

weit, weit hinter den Horizont

wo es keinen Beschuss gibt und keinen Alarm

wo die kleinen Poeten

aus der Stille, die voranweht dem Schrei

Gedichte formen

und ihre Freunde, die Künstler

unterzeichnen mit Blut ihre Arbeiten

und schenken sie

Gott.

 

Fedir Rudy

4.09.2024

 

 

Малюнки для Бога

 

 

Ті малюнки й листи

які надсилають на фронт

наші нові Да Вінчі й Далі

наші власні Моне і Шекспіри

українські Фолкнери та Гюго

талановиті нащадки

козацького роду

які будуть в рази кращими

за всіх перелічених

закордонних митців

дарують надію

бо навіть якщо нам не вижити

якщо нам не судилося

то хоч цьому поколінню

точно пощастить

 

Адже ці роботи

мають сакральну силу

тож суворі окопні дядьки

обклеюють ними СПшки та бліндажі

І носять як оберіг, з собою

щоб захищали й нагадували

рідні міста і домівки

мокрі очі ромашок

та землю, червону від маків

І не страшно

якщо вони з часом зітліють

від безвиході й втрат

або ненароком згорять

у обіймах артобстрілу

з бліндажем та їх власником

і, можливо, навіть з його котом

або куля, пробивши броню

зіпсує малюнок

чимось червоним фарбуючи

жовто-блакитні поля

це не страшно

бо це – війна

 

Але страшно коли

ті малюнки й листи летять

як літачки з паперу

за своїми творцями

далеко-далеко за обрій

де немає обстрілів і тривог

де маленькі поети

із тиші, яка передує крику

створюють вірші

а їх друзі художники

підписують кров'ю свої роботи

і дарують їх

Богу.

 

Fedir Rudy

04.09.2024

 

 

 

Foto: Fedir Rudy im Schützengraben

 

Bei der Zeile "Weit hinter den Horizont" fühle ich mich an Udo Lindenbergs Lied erinnert und habe dessen Text nachgelesen. Doch was Fedir Rudy in seinen Zeilen über den Alltag jenseits meines Horizonts mitteilt, hat doch sehr viel tiefere Dimensionen:

 

 

Schwer

 

Schwer ist es im Krieg

für den, der nicht raucht:

alle beruhigen damit ihre Nerven

doch du hustest

und das Schlimmste ist, wenn

sie dich fahren zum Posten

in einem VW- Bus, der halbtot röchelt

in dem statt Sitzen die Reifen liegen

sich nicht öffnen lassen die Fenster

und du, wie eine Biene,

im Qualm sitzt

geräuchert und ganz betäubt

abgebend, als sei es Honig

in diesem Krieg

deine Gesundheit und Kräfte

 

Schwer ist es im Krieg

dem, der nicht trinkt:

besonders wenn

einer auf Standhaftigkeit mit Kameraden

gekippt wird oder “auf gute Freundschaft”

und dieser Fusel

der gebraut von Oma Soya

(oder war´s Oma Katya?)

getrunken werden muss

und dann ausgekotzt

voller Übelkeit und lange

wie für die Katz

die eigne Wolle

in ganzen Flocken

und die würdige Infanterie

der Streitkräfte

(die auch Kätzchen sind)

damit nicht erschrecken

 

Schwer ist es im Krieg

dem Schriftsteller

besonders doch dem Poeten

besonders wenn

du nicht schreiben kannst

aber es notwendig ist

wie zu verteidigen

vorderste Front

nur mit Schaufeln

für das Versprechen

“sie bringen Waffen,

bis dahin haltet die Stellung”

und neuen Stoff sich noch ausdenken

neue Metaphern

wenn im Bauch

nur die gestrigen Perlgraupen sind

und in den Gedanken

wie irgendwie zu überleben sei

und sei´s bis zum nächsten Morgen

 

 

Schwer ist es im Krieg

ohne Liebe

und ohne Wärme

besonders wenn

es keinen Urlaubstag gibt

und keine Ablösung

wenn gar das Internet fehlt

und das fehlt!

auch muss man es können

so detailliert wie möglich

sich vorstelln´n die eigene Frau

aus dem Vorrat schöpfen der Träume

und der Geduld

wie den Arterienabbinder festzurrend

den Gürtel der Treue

 

Schwer ist es im Krieg

den Patrioten

besonders wenn

du im Schützengraben sitzt

in abgewetzter Pixeluniform

ohne dein gesticktes Hemd

und ohne Facebook

und eigentlich nicht auf dem Laufenden bist

was im Heimatland sich zusammenbraut

ob es schon zum Verrat gekommen ist

oder erneut zum Sieg

aber inmitten der Touristen

und der progressiven Jugend

alle populärsten

Bergtouren

Flusschwimmwettkämpfe

Versteckspiele

ärztliche Gutachten

 

 

Schwer ist es im Krieg

der Äußerste und gar der Letzte zu sein

schwer ist es hier … eigentlich.

Warum wollte ich nicht zu Hause bleiben?

 

Fedir Rudy

31.05.2024

"Die Ukraine siegt"

Kinderzeichnung für die Sldaten an der Front. Foto: Fedir Rudy

Тяжко

 

Тяжко на війні

некурящому:

всі заспокоюють нерви

а ти кашляєш

та найгірше коли

везуть на позиції

у ледь живому "течику"

де покришки замість сидінь

вікна не відкриваються

а ти як бджола

сидиш в диму

обкурений і причмелений

віддаючи наче мед

на цій бійні

здоров'я і сили 

 

Тяжко на війні

непитущому:

особливо коли

побратими на понт беруть

або "за дружбу"

і отой шмурдяк

який жене баба Зоя

(чи баба Катя?)

доводиться пити

а потім вибльовувати

довго і нудно

наче коту

власну шерсть

цілими клаптями

та славетну піхоту

Збройних Сил

(які теж котики)

цим не злякати

 

Тяжко на війні

письменнику

особливо поету

особливо коли

писати не можеш

а треба

наче обороняти

передній край

самими лопатами

за обіцянку

"БК підвезуть

а поки тримайтесь"

ще й вигадувати

нові сюжети

нові метафори

коли в животі –

вчорашня перловка

а у думках –

як би дожити

до наступного ранку

 

Тяжко на війні

без кохання

і без тепла

особливо коли

немає відпустки

немає заміни

навіть інтернету

і того немає

тож треба вміти

максимально детально

уявляти дружину

запасаючись мріями

та терпінням

мов турнікет затягуючи

пояс вірності

 

 

Тяжко на війні

патріотам

особливо коли

сидиш в окопі

у затертому пікселі

без вишиванки

і без фейсбуку

та взагалі не в курсі

що там в країні коїться

чи вже зрада

чи знов перемога

а серед туристів

і прогресивної молоді

все популярніші

гірські маршрути

річкові запливи

ігри в схованки

довідки лікарів 

 

Тяжко на війні

бути крайнім

тяжко тут... взагалі.

Чого мені вдома не сиділося?

 

 

Fedir Rudy

31.05.2024

 

 

 

 

Möge Gott die ukrainischen Soldaten beschützen und möge Er selbst sie gesund ihren Frauen, Müttern, Kindern und der Gesellschaft wieder zurückbringen!

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