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In Charkiw

Mit Erschrecken stelle ich fest: Mein Erinnerungsvermögen will schon nach wenigen Tagen einschneidende Ereignisse nicht mehr zuordnen. Doch die erneuten, massiven, russischen Angriffe auf Kyjiw, Odessa, Mikolajiw, Charkiw und andere ukrainische Orte sind jedesmal Anschläge auf Menschenleben und auf das, was Menschen elementar zum Leben brauchen. All das sollte nicht in Vergessenheit geraten.

 

Während ich beginne, diesen als kurz geplanten Artikel zu schreiben, leuchten auf Facebook erschreckende Nachrichten meiner Kyjiwer Freundinnen auf. Die eine, die unweit der Kirche St. Katharina lebt, wenige Meter vom Präsidentenpalast entfernt, schreibt:

"<Ist unser Haus noch ganz?> Das  ist heute die wichtigste Frage, die Nachbarn einander im gesamten Stadtgebiet geschickt haben."

Und eben, als ich meinen Eintrag fertigstellen will, entdecke ich ein Foto:

Ein Trümmerhaufen, im Hintergrund ein Mehrfamilienhaus, wie es im Kyjiwer Bezirk Pechersk häufig zu sehen ist. Bis wir 2015 nach Deutschland zurückgingen, war das auch unser Stadtbezirk. Meine andere Freundin schreibt dazu ganz knapp:

 "Liebe Freunde, auf der Stelle und an alle (klingt fast wie Urbi et Orbi). Tatsächlich. In unserer direkten Nachbarschaft! Bei uns ist Gott sei Dank, noch alles in Ordnung. Wir danken allen und jedem Einzelnen von Herzen für Eure Besorgnis!"

 

Zurück zum geplanten Artikel:

 

So will ich mit einem kurzen Schlaglicht für Euch festhalten, wie es meiner Dichterkollegin Natalya Sidlar-Dubova in Charkiw geht. Vor wenigen Wochen erst durfte ich sie bei einer literarischen Onlineveranstaltung live erleben. Es war ein bewegender Event der Facebookgruppe ukrainischer Dichter, in der ich mitlese. Auf die Initiative von Wasyl Scherbiuk, der das Format "Teplomist" ("Brücke der Wärme")  vor Jahren ins Leben gerufen hat, wurde sie dort interviewt von Natalya Fogel (von ihr berichtete ich hier:https://www.charis-haska.de/2022/06/14/selbst-wenn-wir-nicht-davon-schreiben/). Über dieses beeindruckende Format wird an anderer Stelle noch zu berichten sein.

 

Natalya Sidlar-Dubova berichtet aus Charkiw:
23. März.
"Blackout. Zweiter Tag. Das Internet ist wieder da, daher kann ich schreiben.
Sollte jemand meinen, in der Stadt herrsche Hysterie, so antworte ich: Nein. Die Leute hier haben auch gestern gearbeitet oder sich ausgeruht.
Ich habe für heute konkrete Pläne.
Ich danke allen, die an mich denken.
Ich möchte Euch daran erinnern, dass die Sammlung für Ptaschka/Mavik zugunsten der 18. Slovyansker Brigade weiterläuft. Wir brauchen noch ein wenig mehr, als 10 000 Hryvna, um die benötigte Summe zu erreichen. Hier ist der Link zur Bank [...]
Foto (s.o.): Ein unbesiegbarer Charkiwer"
 
24. März
"Nachrichten ... Die Nachrichten am Morgen bereiten absolut keine Freude. Es ist noch unbekannt, wann wir wieder Licht und Strom haben werden ...
Ihr in Stryij, in Lwiv, haltet durch! Es wird ganz sicher alles gut!
Blackout. Der dritte Morgen.
Gestern konnte ich morgens bis zum Mittagessen mein Telefon bei der Neuen Post aufladen.  Heute gehe ich nochmal zum Aufladen, denn gestern wurde der Strom für ein paar Stunden eingeschaltet, dann aber doch wieder abgeschaltet.
Außerdem war ich bei einer poetischen Lesung im Charkiwer Literaturmuseum (Харківський ЛітМузей). Es war sehr interessant,  der Poesie junger Menschen zu lauschen.
Und ich erinnere nochmal an die Sammlung für Ptaschka/Mavik für die 18. Slovyansker Brigade. Bis zur benötigten Summe bleibt noch ein Restbetrag von 3000 Hrywna. Der Link für die Bank ist [...]"

 

Ich habe Natalya heute morgen angefragt, ob sie mir für diesen Artikel noch etwas Persönliches von sich erzählen möchte. Sie gab mir die Erlaubnis, alle ihre Facebookeinträge zu verwenden. Und dankte mir sehr herzlich dafür, dass mir das Ergehen der Ukraine nicht egal ist.  Und dann die kurze Feststellung, dieser tapferen und sonst recht mitteilungsfreudigen, jungen Frau:  "Mehr Informationen schicke ich Ihnen später ..."

 

Nachtrag: Inzwischen hat Natalya mir Informationen zukommen lassen. In Transkarpatien geboren,  aufgewachsen und ausgebildet, wohnte sie aus familiären Gründen einige Zeit in der nördlichen Ukraine, bevor sie 2017 nach Charkiw zog. Dort lebt sie seitdem. Seit längerer Zeit ist sie als Ehrenamtliche für einen Wohltätigkeitsfond tätig.

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