Vor wenigen Tagen hatte er noch auf Facebook erzählt, dass ehemalige ukrainische Stadtführer jetzt als Freiwillige ihre Mitsoldaten zu Ausbildungscamps in Europa begleiten, um ihnen übersetzend die Verständigung zu erleichtern. Etliche Kollegen zählte er namentlich auf. Und ich ich suchte unwillkürlich nach dem Namen des jungen Mannes, der damals in Kyjiw unseren
schwedischen Freunden die Stadt gezeigt hat. In perfektem Schwedisch hatte er ihnen nicht nur Sehenswürdigkeiten vorgestellt. Nein, er hatte ihnen so lebendig von Kunst, Kultur, Literatur und der Geschichte des ukrainischen Volkes berichtet, dass sie uns anschließend immer wieder begeistert von dieser Führung erzählten. Ihr Besuch bei uns in Kyjiw war etwa im Jahr 2012. Jahre später noch leuchteten die Augen des schon ziemlich betagten Ehepaares, wenn sie bei unseren seltenen Begegnungen auf ihre Reise in die Ukraine zu sprechen kamen. Dabei erwähnten sie immer wieder diesen Stadtführer.
Auch die Führungen unseres FB-Freundes müssen genial gewesen sein! So habe ich es mir von Ralf erzählen lassen. Wie findig doch diese begabten Menschen sind, dass sie ihre Sprachkenntnisse jetzt auf neue Weise zum Wohl ihres Landes einbringen!
Gestern las ich dann bei ihm folgende Feststellung:
"Wenn du noch am Leben bist, dann bedeutet das, dass du etwas noch nicht zuende gebracht hast." Als Quelle dieses Ausspruchs gibt er einen Militärseelsorger an. Und zeigt mithilfe eines Emojis, dass er selbst sich nachdenklich fühlt. In einem Kommentar in der sich darüber lebhaft entwickelnden Diskussion merkt er an, das sei an der Front besonders deutlich zu spüren. Jemand schreibt: "Ja, Du hast dem neuen Präsidenten Deutschlands noch keine Stadtführung gemacht." (Ich denke, mit dem Präsidenten war eigentlich der Bundeskanzler gemeint.) Doch die Kommentare anderer Freunde klingen sehr ernst.
Ich überarbeite zurzeit von meine Übersetzungen ukrainischer Gedichte, die seit kurz vor Beginn des großangelegten Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine entstanden sind. Gerade bin ich mit dem Dokument beschäftigt, in dem ich Gedichte zu einem Expresswettbewerb anläßlich des Valentinstages 2023 gesammelt habe. Ganz entzückende Werke zum Thema "Wenn wir zusammen älter werden", vielfältig, sprühend von tollen Visionen für die friedliche Zukunft der Ukraine, bilden sie auf innige Weise die gegenseitige Liebe langandauernder Partnerschaften ab. Faszinierend ist, dass die Teilnehmer des Literaturwettbewerbs nicht einmal eine Woche Zeit hatten, um ihre Gedichte fertig zu stellen. Trotzdem ist ihre Qualität erstklassig.
In einem dieser Gedichte verstand ich eine Zeile nicht und schrieb die Autorin an. Sie antwortete mir sofort, dankte mir dafür, dass ich sie an das von ihr selbst schon vergessene Gedicht erinnere und ihm meine Aufmerksamkeit widme, und gab mir gerne die Erlaubnis, es in meinem geplanten Gedichtband zu veröffentlichen. Dazu bat ich sie um ihre Kurzbiografie. Auch diese ließ sie mir binnen Minuten zukommen. Sie schrieb mir, dass sie seit dem 24. Februar 2022 noch mehr Gedichte verfasst, als früher. Die Gedichte helfen ihr, mit den schweren Ereignissen zurechtzukommen. Aus ihren Angaben entnahm ich, dass sie in einem Dorf nahe der belarussischen Grenze lebt, also einem Gebiet, das schon am ersten Kriegstag unter russischer Besatzung war. Vorsichtig fragte ich nach, ob das nicht traumatische Erfahrungen waren. "Zu Beginn des Krieges war ich im besetzten Tschernihiw im Krankenhaus. Dort verbrachte ich fast einen Monat. Konnte nicht heraus. Was ich dort erlebte, war schlimmer als ein Albtraum. Dank der Hilfe von Freiwilligen konnte ich dann herausgebracht werden. Aber danach konnte ich ein halbes Jahr nicht schlafen. Ich habe darüber noch nicht schreiben können."
"Wahrscheinlich werden Sie erst das Trauma verarbeiten müssen. Danach aber sollten Sie es aufschreiben für künftige Generationen." antwortete ich. - "Genauso habe ich es vor. Aber im Moment klappt es noch nicht. Sie haben Recht: Zuerst muss das seelische Trauma bewältigt werden."
Doch auch Erfreuliches kann ich berichten: Die Facebookgruppe ukrainischer Poeten, von der ich schon öfters hier im Blog berichtet habe (die meisten der hier von mir vorgestellten ukrainischen Gedichte stammen aus der Feder ihrer Mitglieder) ist nun endlich als gemeinnützige Organisation anerkannt. Das erleichtert ihr zum Beispiel, nun auch Spenden zur Finanzierung ihrer literarischen Arbeit entgegenzunehmen. In den letzten Wochen haben die Administratoren schöne bunte Mitgliedsbescheinigungen für etliche Autorinnen und Autoren erstellt, die dann auf deren Facebookseiten zu bewundern waren. Viele Gratulationen gab es dazu. Eine Dichterin kommentiert ihre Bescheinigung mit den Worten: "Ich freue mich, eine Ähre auf dem literarischen Feld sein zu dürfen."
Am vergangenen Sonntag hat die Gruppe wieder einmal eine Onlineveranstaltung durchgeführt. Gestern habe ich mir einen Teil der Aufnahme ansehen können. Der Dichter Viktor Krupka moderierte die Sendung und interviewte die Dichterin Natalia Fogel aus Uzhhorod, die ich hier im Blog bereits mit ihrem Gedicht "Nicht werde ich schreiben" vorgestellt hatte. Da ich ihre hintergründigen Texte sehr liebe, war es mir ein besonderes Vergnügen, sie in Aktion zu erleben. Die Streitkräfte sind für die Ukrainer nicht eine abstrakte Einrichtung. Es sind ihre Angehörigen, die unter Einsatz ihres Lebens um die Sicherheit ihres Landes kämpfen.
Als Viktor Krupka die zuschauenden Mitglieder begrüßte, verwendete er eine Formulierung, die ich seit Beginn des Krieges immer wieder zu lesen bekam: "Ich freue mich, dass wir dank der Streitkräfte der Ukraine diese Veranstaltung durchführen können." Ihnen zu Ehren wolle die Gruppe ihre Kreativität zum Wohle des Landes weiterentwickeln und die ukrainische Sprache pflegen.
Für mich war es klasse, die beiden Dichter so natürlich, ungekünstelt und vor allem fröhlich auftreten zu sehen. Der Dichterin wurden nicht nur Fragen gestellt, die der Interviewende vorbereitet hatte, sondern auch solche, die während der Veranstaltung in den Kommentaren auftauchten. Es war so viel Heiterkeit und Wärme in diesem Gespräch!
Dann wurde Natalia Fogel gebeten, einige Gedichte vorzutragen. Sie begann mit sonnigen Versen, die ich nicht ganz verstand, ging dann aber schnell über zu ihren
jüngeren Versen, die sich direkt mit dem Kriegsgeschehen befassten. Von einem der Gedichte, in dem sie in "ich-Form" Kinder zu Wort kommen ließ, die durch den Krieg zu Schaden oder gar ums Leben
gekommen sind, hätte sie in ihren erklärenden Worten vorab gar nicht sagen müssen, dass es für sie sehr schmerzhaft ist. Sie las es unter Tränen, mit Pausen, in denen ihr die Stimme versagte. Zu
ihrer poetischen Tätigkeit kommt sie zurzeit übrigens selten, da viel Zeit für ihre Arbeit als Freiwillige verplant ist: Sie gibt Kindern und Jugendlichen professionelle psychologische
Unterstützung.
Im Laufe des Gesprächs erwähnte sie übrigens auch, dass sie zu Beginn des Krieges immer wieder ihre neu entstandenen Gedichte in russischen Foren veröffentlicht hatte, um den Russen zu zeigen, dass in der Ukraine ganz normale Menschen leben und die Bevölkerung großes Leid durch den Krieg erfährt. Sie war schockiert darüber, dass von den russischen Lesern keinerlei Empathie zu erkennen war. Schließlich habe sie es aufgegeben.
Noch habe ich mir die fast zweistündige Aufnahme erst zu einem Drittel angesehen. Aber da sie durch und durch spannend ist, freue ich mich darauf, sie noch fertig anzuschauen.
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