"Was raubt euch den Schlaf ... zu viel Kaffee im Laufe des Tages? Gedanken? Oder etwas anderes? Oder seid Ihr einfach Nachteulen?" Mit dieser Frage weckt Olena
Bogutska auf FB ein lebendiges Gespräch. Binnen neun Stunden (über Nacht) sechsundzwanzig Kommentare.
"Mein Blutdruck!" schreibt eine sofort und Olena rät ihr fürsorglich, die Unterarme in kaltes Wasser zu halten. Eine gibt zu, vor dem Fernseher eingenickt zu sein. Das Bedürfnis zu weinen raube ihr den Schlaf. Außerdem komme sie mit ihrem alten Tablet nachts noch am besten ins Internet. Eine andere FB-Freundin fügt hinzu, sie nehme ständig Medikamente ein, zu deren Nebenwirkungen auch Schlaflosigkeit zähle.
Jemand schreibt nur "Gedanken ... Drohnen ..." und eine andere ergänzt: "Es kommt ganz darauf an, wo der Ukrainer sich befindet."
Ich folge Olena Bogutska, weil ich ihre eingängigen Gedichte liebe. So konnte ich seit Beginn des großangelegten Angriffs Russlands auf die gesamte Ukraine beobachten, dass sie nahezu täglich ein selbst verfasstes, aktuelles Gedicht parat hat, zu dem sie ganz gerne ein Foto von sich selbst in der Natur ins Netz stellt. Seit Monaten, im Zusammenhang mit ihrer onkologischen Behandlung, ist ihr Gesicht erschreckend bleich. Doch selbst in der Klinik hat sie nicht geschwiegen. Ich habe viele Gedichte mit großem Tiefgang von ihr gelesen. Sie sieht es als ihre Aufgabe, ihren Landsleuten Ermutigung zuzusprechen. Darin lässt sie nicht nach.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass sie auf FB begann, auch Prosatexte zu veröffentlichen. In ihnen setzt sie sich unter der Überschrift "Krebs ist keine Strafe" mit ihrer Krebserkrankung auseinander. Damit bricht sie gewissermaßen ein Tabu, denn in der orthodox geprägten Welt neigt man häufig dazu, Krankheit quasi aus Gottes Hand als unabwendbar hinzunehmen und darüber zu resignieren. Sie legt ihren Lesern wärmstens ans Herz, auch in den schwierigen Zeiten nicht zu lang selbst an sich herumzudoktern, sondern sich in professionelle Hände zu begeben.
Und nun hat diese tapfere Frau diese Texte sogar als Buch herausgebracht, in der Hoffnung, dass Menschen sich nicht aufgeben. Die meisten ukrainischen Autoren sind darauf angewiesen, ihre Bücher im Eigenverlag herauszugeben. Staatliche Unterstützung einer literarischen Tätigkeit ist nicht vorgesehen, viele bringen enorme Kosten für ihre Veröffentlichungen auf. Ich weiß, dass Olena ihre komplette Werbung selbst organisiert und durchführt. Wie sie das alles schafft, so geschwächt, wie sie ist?! Wie sehr ich ihr eine vollständige Genesung wünsche!
Eine andere Freundin schrieb in den letzten Tagen:
"In unserem Hof gibt es zwei Neuigkeiten. Die eine: Die ukrainischen Streitkräfte konnten die russische Einheit vernichten, die zwei ukrainische Soldaten erschossen haben, welche sich unbewaffnet ergeben hatten.
Die andere: Einer der beiden Soldaten ist unser Nachbar."
Und ich lese einen neuen FB-Eintrag des Schriftstellers Witaliy Sapeka, der inzwischen für sein Erstlingswerk, den wunderschönen, warmherzigen Antikriegsroman
"Polinka" ausgezeichnet wurde. Verfasst hatte er diesen seit 2014 im Schützengraben "für Kinder im Alter von vier bis achtzigundeinhalb Jahren". Das Besondere an "Polinka" ist, wie Sapeka auf
seine humorvolle Art Situationen im Alltag nachmalt, die zu gegenseitigen Kränkungen führen. Polinkas Großvater leitet sein Enkelkind dazu an, Konflikte aktiv und in gegenseitiger Wertschätzung
zu lösen. Die Vokabel "Krieg" selbst kommt in dem 171 Seiten langen Text kein einziges Mal vor.
Heute erzählt er von der Kaffeepause seiner Einheit, die zum großen Teil dafür draufgeht, dass ein neuer Graben als Sicht- und Windschutz ausgehoben werden muss. Mit dem heißen Kaffeebecher in der Hand können die Kameraden und er aus nächster Nähe beobachten, wie die benachbarte Einheit angegriffen wird. Sie hören den Lärm der russischen Panzer, sehen Rauch aufsteigen und nehmen die Funksprüche ihrer Mitsoldaten dort drüben wahr. Hilfe wird angefordert, Verletzte müssen evakuiert werden. Lebendig beschreibt er, wie zwei der Soldaten sich auf den Weg machen, durch Schnee und Gesträuch robben und schließlich zu zweit den Verletzten aus der Schusslinie ziehen. Auch Verletzte müssen den Helm und die schusssichere Weste anbehalten. Sapeka schreibt davon, wie auch er selbst schon Kameraden auf Tragen evakuierte. "Die Bahre war so schwer, dass mir schon nach wenigen Schritten die Hände taub wurden. Zum Glück waren wir genug Leute, die sich abwechseln konnten. Man braucht mindestens vier, wenn nicht sogar sechs Leute dafür, im besseren Fall acht. Und hier waren die Jungs nur zu zweit"!"
Es gelang, den Verletzten kriechend zu retten.
Schlafen? Kaffeepause?
Trotzdem schreiben meine ukrainischen Freunde voller Hoffnung und Zuversicht.
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