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Geboren auf der Krim. Die Rolle des Dichters in der Gesellschaft

Wer hätte geahnt, dass ich dem Blogeintrag über ihn dieses Foto zuordnen würde, das ich knipste, als nur noch ein Tag fehlte, bevor elf Jahre nach seinem Autogramm für mich verstrichen waren?

Es war ein heißer Tag, damals am 27. Mai 2011 - und ich erinnere mich nicht mehr, aus welchem Grund ich mit einem unserer Kinder am Vormittag in der Nähe der U- Bahn- Station Khreschtschatyk in Kyjiv ein Softeis kaufen wollte. Denn eigentlich hätte das Kind meiner heutigen Rechnung nach in der Schule sein müssen. Vermutlich waren wir auf dem Rückweg von einem unserer ungeliebten Besuche in der Poliklinik. Kyjiver Softeis - das muss ich für Euch ergänzen - ist so ziemlich das leckerste Speiseeis, das ich mir vorstellen kann: Diese Mischungen aus Schokoladen- und aromatisch-cremigem Zitroneneis oder auch Eis mit dem Aroma der Schwarzen Johannisbeere, wahlweise mit oder ohne Schokoladenglasur, mit oder Streusel und Nussplitter waren für uns damals in jeder Hinsicht zum Dahinschmelzen.

 

Ich musste einen Moment in Gedanken versunken sein, jedenfalls sehe ich mich in der Erinnerung zum Eingang des U-Bahnhofs blicken, während das Kind vermutlich schon ungeduldig am Kiosk auf sein Eis wartete. Da löste sich aus der Menge der Vorbeieilenden ein schlanker, hochgewachsener Mann, ein helles, einfarbiges Hemd über seiner hellen Hose. Er steuerte direkt auf mich zu. Das ist an sich noch nichts Besonderes: Die Ukrainer sind ein sehr kommunikatives Volk, man kommt dort schnell mit wildfremden Menschen ins Gespräch. Und ich habe es oft erlebt, dass mir plötzlich jemand auf offener Straße etwas verkaufen wollte. Häufig handelte es sich dabei um Prachtausgaben grell illustrierter Kinderbücher, die leider völlig an meinem Geschmack vorbeigingen. Diese Leute boten mir gegenüber für gewöhnlich viel theatralisches Pathos auf, sodass ich vor ihnen zurückschreckte. Denn bei so dick Aufgetragenem meldeten sich bei mir schnell leise Zweifel an der ehrlichen Absicht des Gesprächspartners.

 

Bei diesem jungen Mann war das anders: Er trat zwar bestimmt, aber zugleich unaufdringlich auf. Seine  charismatische Ausstrahlung war mir so sympathisch, dass ich ihm nicht übel nehmen konnte, von ihm kurz von meinem schon nicht mehr ganz kleinen Kind abgelenkt zu werden. Unser Wortwechsel beschränkte sich auf wenige Sätze. Er bot mir seinen gerade herausgekommenen Gedichtband an. Bücher, so wusste ich, waren für uns Ausländer billig. Und ich war damals begierig darauf, Literatur in russischer Sprache wahrzunehmen, um Land und Leute immer besser zu verstehen. Ich erbat mir seine Widmung und erstand das gediegen gestaltete Buch für einen Betrag von etwa vier Euro.

 

"Mit den Augen der Seele" lautet der Titel der Sammlung. Mit geübter Hand signierte Petr Orlow mir sein Werk und wünschte mir, so erinnere ich mich, es möge mir zum Segen gereichen.

Das war sie schon, meine kurze und bisher einzige Begegnung mit dem Dichter Petro Ruh. Das "h" in seinem Namen wird im Ukrainischen wie ein "ch" gesprochen. So bedeutet sein Nachname so viel wie "Bewegung", was sich sowohl auf eine Entwicklung, als auch eine Fahrt beziehen kann. Zu meiner Freude stellte ich nach meines Kindes Eisgenuss zuhause angekommen fest, dass ich die Mehrzahl seiner Gedichte verstand. Aus seiner Kurzbiografie auf den ersten Seiten des Buches erfuhr ich, dass der Dichter 1970 auf der Krim geboren und aufgewachsen war. Dort war er, dessen erste Gedichte bereits veröffentlicht wurden, als er gerade mal sieben (!) Jahre alt war, auch Mitglied im Verband russischer, ukrainischer und belarussischer Schriftsteller. Bei der Lektüre seiner Gedichte stellte ich schnell fest, dass für ihn der Glaube an Gott eine große Rolle spielt. Daher wohl auch bei unserer Begegnung sein Segenswunsch zum Abschied. Und ich stutzte, denn ich fand in der Sammlung unter anderem auch einige Gedichte auf Ukrainisch, das ich allerdings damals nur lückenhaft verstand.

 

Blättere ich heute darin, so finde ich eine Vielzahl schöner Liebesgedichte. Außerdem Gedichte, mit denen der Autor dem Leser sein Selbstverständnis als Dichter mitteilt. Damals, als "Mit den Augen der Seele" noch ganz neu war, lebte er etwa seit einem Jahr in der Hauptstadt. In seinem Gedicht "Kiew" (S. 137) beschreibt er durchaus wehmütig, dass er das Leben in der unvergleichlichen Natur auf der Krim zurück gelassen habe: "Bis zum Tod hätte ich  dort unerschüttert und glücklich leben können. Doch als Dichter muss ich der Welt mit dem dienen, was ich im Herzen trage." Damit meinte er, der Häufigkeit der Erwähnungen nach zu urteilen, gewiss damals seinen Glauben und sein Gottesverständnis. Den Glauben an den Gott, der die Menschen nicht zu Sklaven degradiert, sondern sie mit der Gewissheit beschenkt, dass sie sich Ihm als seine geliebten Kinder zuwenden dürfen und dadurch frei und aufrecht durchs Leben gehen können. Ich war ziemlich überrascht von so viel offen bekannter Religiosität.

Seine Gedichte in ukrainischer Sprache zeugten bereits 2011 von einer großen Liebe zu seinem Heimatland Ukraine. In einem singt er ein Loblied auf die ukrainische Sprache, "die beste Sprache für Lieder, Gebete und Gedichte". "Ausdrucksvoll, großartig und klangvoll ist sie, geradezu die Sprache der Seele selbst." (S.150) In einem Achtzeiler schreibt er sogar: "Lieben und heilig halten müssen natürlich alle Russländer die Ukraine. So, wie sich der Sohn gegenüber seiner Mutter zu verhalten hat,  so steht es den Russen gegenüber ihrer Mutter, der Ukraine, an. Und die ukrainische, das heißt, die wahre russische Sprache ist großer Hochachtung wert." (S. 139) Nur soviel hier zu Russlands verleumderischen Mythen, die ukrainische Sprache sei keine richtige Sprache und die Krim sei immer russisch gewesen.

 

Irgendwann nach unserer Begegnung muss Petr Orlow wieder auf die Krim zurückgekehrt sein. Denn auf seiner Webseite https://www.petroruh.com/ erfährt man, dass er 2014 von dort floh, als Russland die Krim annektierte. Seitdem lebt er in Tschernihiv.

Jahre hat das Buch in meinem Regal gestanden und ist natürlich mit nach Deutschland umgezogen. Erst als ich in den letzten Jahren begann, Gedichte aus dem Ukrainischen zu übertragen, kam mir der Gedanke, den Autor auch auf Facebook zu suchen. Da ich ja inzwischen selbst schon veröffentlicht hatte, suchte ich voller Interesse den Austausch mit vielen Autoren. Ich fand Petr Orlow unter seinem ukrainischen Namen Petro Ruh. Nur eine kurze Begrüßung, doch von da an sah ich ihn ab und zu in diesem Medium - und dann auch in Uniform.

 

Was muss geschehen, dass ein sanft auftretender, überzeugter Christ seine Muttersprache Russisch und seinen Geburtsnamen hinter sich lässt und sich eindeutig für die andere Kultur seines Heimatlandes entscheidet? Sich für das Heimatland und dessen Entwicklung in Abgrenzung zu Russland politisch stark engagiert und letztlich dafür auch die Uniform anzieht und zur Waffe greift?

Selbstverständlich sind angesichts der Ereignisse der letzten Jahre und Monate für mich solche Fragen rein rhetorisch. Ich versuche allerdings häufig, mir vorzustellen, was es für die Menschen bedeutet, nur noch die ihnen ungewohntere Sprache zu benutzen. Zwei Staatsprachen zu haben und damit zweisprachig aufzuwachsen, das ist sicher ein großer Reichtum. Die Dimension ist natürlich nicht vergleichbar, doch ich persönlich täte mir schwer damit, wenn ich mich nur noch auf Fränkisch ausdrücken wollte. Obwohl es in meiner Kindheit in meinem Umfeld mein ständiger Begleiter war, bin ich doch im von meinen Eltern mitgebrachten Hochdeutsch viel gewandter. Und so empfinde ich Hochachtung gegenüber diesen Ukrainern, die sich trotz anderer Prägung bewusst für die ukrainische Sprache und Kultur entscheiden und sich mit ihrem Leben dafür einsetzen.

 

Als ich Anfang März 2022 Petro Ruhs folgendes Gedicht übersetzte, zuckte ich innerlich zusammen. So positiv und zukunftsweisend ich auch seine Grundaussage fand - ein ganzes Land als Mörderland zu bezeichnen, das erschien mir zunächst als ziemlich heftig. Ich befürchtete, dass ich damit bei meinen deutschen Lesern auf wenig Verständnis stoße. Seit den Entdeckungen von Butscha dürfte sich die Sicht der Welt darauf jedoch geändert haben. Die Schärfe im Mittelteil des Gedichts ist sicher mit darauf zurückzuführen, dass zumindest Ruhs Lebensgefährtin die russische Invasion in Tschernihiv miterlebt hat, ich vermute, auch er selbst.

Vor wenigen Tagen fand ich auf seinem FB- Account ein aktuelles Foto von ihm als Patient im Krankenhaus, am Tropf liegend: "... die Folgen meiner Prellung vom März muss ich nun doch ärztlich behandeln lassen." Sein Gesichtsausdruck: Freundlich. Und zuversichtlich. So denke ich, nun ist die Zeit reif, Euch sein Gedicht aus den ersten Tagen von Russlands Krieg gegen die gesamte Ukraine zugänglich zu machen:

Leidvolle, tragische, schmerzhafte Stunden


Leidvolle, tragische, schmerzhafte Stunden,

schwere, doch heldenhafte Zeit

unseres Schicksals, des der Ukraine 

geben mir starke Zuversicht dessen,

dass bald der Wandel kommt, schnell auch der Sieg,

Sieg des Guten über das Böse. Erringen wir ihn!

Aus Uneigennützigkeit, Einigkeit und Gott 

rührt uns´re unbesiegbare Kraft.


Ein terroristisches Land, ein Mörder-Land,

ein Henker-Land - zum wievielten Mal -

dringt ein zum Terror gegen uns Ukrainer,

zum Genozid, auszulöschen uns,

das Volk, das es nicht unterwerfen konnte,

seit Jahrhunderten schon, noch seiner Freiheit berauben!

Und so muss es nun wohl selbst ausbrennen

in dieser Flamme des Leids, Unglücks, der Not und des Brandes,

die es doch selbst rund um sich entfacht

(Alle wissen: Der russische Geist ist Brandherd des Rauches)

und es wird kommen sein Ende, und niemals mehr 

wird die Welt von ihm her ein Leid noch erfahren.


Leidvolle, tragische, schmerzhafte Stunden,

schwere, doch heldenhafte Zeit

unseres Schicksals, des der Ukraine 

geben mir starke Zuversicht dessen,

dass bald der Wandel kommt, schnell auch der Sieg,

Sieg des Guten über das Böse. Erringen wir ihn!

Aus Uneigennützigkeit, Einigkeit und Gott 

rührt uns´re unbesiegbare Kraft.

 

Petro Ruh

8.03.2022

 

 

Лихі, трагічні, болісні години,

 

Лихі, трагічні, болісні години,

Важкі, славетні й героїчні дні

У нашій долі - долі України - 

Дають велику впевненість мені

У скорих змінах, скорій перемозі

Добра над злом. Ми робимо її. 

Ми в безкорисливості, єдності та Бозі

Незламні сили беремо свої. 

 

Країна-терорист, країна-вбивця, 

Країна-кат (kasap) у котрий раз

Вдається до терору українців, 

До геноциду, аби стерти нас - 

Народ, який не може підкорити, 

Зневолити впродовж сторіч, авжеж! 

Та  їй самій згоріти

У цьому полум'ї лих, бід, нещасть, пожеж,

Які вона розпалює навколо

(Всі знають: русскій дух - пожеж цих дим ). 

І прийде їй кінець. І більш ніколи

Від неї не зазнає світ біди.

 

Лихі, трагічні, болісні години,

Важкі, славетні й героїчні дні

У нашій долі - долі України - 

Дають велику впевненість мені

У скорих змінах, скорій перемозі

Добра над злом. Ми робимо її. 

Ми в безкорисливості, єдності та Бозі

Незламні сили беремо свої. 

 

08.03.2022, Україна

Петро Рух



 

Der Dichter als mahnender und wegweisender Prophet in der Gesellschaft - möge er mit seiner Vision Recht behalten!

 

Gott segne die Ukraine!

 

 

P.S. Erst als ich diesen Artikel schon veröffentlich hatte, erfuhr ich, dass Petro Ruh das Gedicht während der Belagerung seiner Stadt Tschernihiv verfasst hat. Da er sich aktiv an der Verteidigung der Stadt beteiligte, die wir in den ersten Kriegswochen mit so verstörenden Bildern in den Nachrichten sahen, hatte er guten Grund, die Koordinaten seines Aufenthalts nicht an die große Glocke zu hängen

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