"Gestern habe ich mein Töchterchen in der Schule angemeldet," schreibt einer meiner ukrainischen FB- Freunde - und ich muss daran denken, wie stolz er war, als das Mädelchen vor einigen Jahren geboren ist. Seitdem sah ich bei ihm immer wieder Fotos seiner Tochter, auf denen sie ihm von Tag zu Tag ähnlicher wird, manchmal auch ihre immer geschickteren Zeichnungen. Seit sie vorsichtshalber mit Mama nach Deutschland ausgereist ist, schreibt er von seinen Telefonaten mit ihr, von ihren kindlich weisen Sprüchen, und wie sehr sie sich wünscht, wieder heimzukommen. Hoppla, denke ich, sie soll schon in die Schule? Ist sie wirklich schon so groß? Und wird das denn gehen, am 1. September, dem ersten Schultag überall in der Ukraine, dort, wenige Kilometer von der russischen Grenze? Ich lese weiter: " ... und ich hoffe, dass die Russen sich bis dahin verdünnisiert haben". Dabei verwendet er den ukrainischen Ausdruck aus der Nationalhymne, ein Wort für die Russen, das wie der Tautropfen klingt, den die liebe Sonne verdunsten lässt.
Beim Weiterscrollen der FB- Neuigkeiten fällt mir ein Gedicht auf. Sein Autor ist mit seinen hintergründigen Wortspielen für mich eine wahre Entdeckung. Mykola Sobol heißt er, stammt aus Wyshhorod bei Kyjiv, unweit von Butscha, ist 49 Jahre alt und von Beruf Sportlehrer und Kampfsporttrainer. Gedichte begann er mit elf Jahren zu schreiben, als ihm auf dem Schulweg ein Reim in den Sinn kam. Seitdem kann er nicht sagen, ob das Dichten eher über ihn kommt, oder er sich ihm zuneigt.
Wiegenlied für das Füchslein
Geh den Eierkuchen speisen, Füchslein,
weil das Töchterlein ihn doch nicht will.
Und ich, ich schauk´le in der Wiege
deine quälende Schlaflosigkeit.
Gemeinsam werden wir uns freuen,
träumen von dem Wunder.
Schnell wachsen heran die Kinder,
schnell wandelt sich ihr Lebensfluss.
Komm, ich geb´ Dir noch Smetana
und leg Dir duftende Raute dazu.
Magst Du, setzen wir uns in den Anbau,
weit, weit weg von all den Sorgen.
Iss doch, Füchslein, iss den Eierkuchen,
ganz für die Dir eig´ne Neigung.
Macht das Schicksal das mit Absicht?
Ich streichle das Füchslein und weine.
Mykola Sobol, 12.05.2022
Колискова для лиски
Йди налисник їсти, лиско,
бо не хоче доня.
Залюлюкаю в колисці
я твоє безсоння.
Разом будемо радіти,
мріяти про диво.
Швидко виростають діти
і минають зливи.
Ходь, наллю тобі сметанки,
ще й добавлю рути…
Хочеш сядемо на ґанку
подалі від скрути.
Їж же, лиско, їж налисник
це тобі на вдачу.
Може доля так навмисно?
Гладжу лиску й плачу.
12.05.22р.
Mykola Sobol
Das Gedicht berührt mich, ich will ihm eine Reaktion darauf geben und lese nebenbei in den Kommentaren darunter seinen Dialog mit einer anderen Dichterin. Dort erzählt er voller Schmerz davon, dass Frau und Tochter in der Ferne weilen, gerade jetzt, wo die Kleine sich so atemberaubend schnell entwickelt.
Sobol zu lesen ist für mich faszinierend! Am gleichen Tag finde ich zwei weitere kurze Gedichte von ihm:
Besser mit Schlangen zu sprechen
Offenherzig rede ich mit Schlangen
über das völlig zerstörte Mariupol
über den fernen, ersehnten Frieden,
die Herzlosigkeit der Moskowiten.
Das Land füllt sich mit Ruinen,
zum HERREN gehen die Helden.
Aber wir gehen nicht in die Knie
vor der Moskauer Horde.
Mykola Sobol
Краще говорити зі зміями
Відверто говорю зі зміями,
про Маріуполь вщент розбитий,
про мир далекий і омріяний,
про безсердечність московитів.
Країна повниться руїнами,
до Господа ідуть Герої.
Але не станем на коліна ми
перед московською ордою.
13.05.22р.
Mykola Sobol
Was man natürlich im deutschen Text nicht auf den ersten Blick sieht: Das ukrainische Wort für "Schlangen" enthält die in der Ukraine allgegenwärtige Abkürzung für den Begriff "Massenmedien". Ich schreibe mit Sobol hin und her. Ja, er hat mit den Schlangen vor allem diejenigen im Blick, die unter dem Einfluss der russischen Propaganda stehen. Gemeinsam trauern wir darüber, dass es tatsächlich Menschen gibt, die immer noch glauben, in der Ukraine herrsche "nur" ein Bürgerkrieg. Und wir sind voller Entsetzen darüber, dass die russisch orthodoxe Kirche, namentlich ihr Patriarch Kyrill, diese Propaganda maßgeblich mit befeuert.
Übrigens: Im Ukrainischen klingen beide Gedichte sehr melodiös, sowohl im Versmaß als auch vom Reim her. Und seine Wortwahl ist großartig.
Durch seinen folgenden Vierzeiler klingt Kritik an den Verantwortlichen im eigenen Land und die Sehnsucht nach Transparenz der verbreiteten Informationen hindurch:
Weder Gewissen haben wir, noch Schamgefühl.
Gib uns, oh Herr, doch wenigstens ein Feigenblatt!
Denn gilt des einzel´n Menschen Tod als große Not,
bleibt doch der Mord an Tausenden bloße Statistik.
Ні Совісті не маєм, ні стида.
Подай, Господь, хоч фігового листика!
Бо наче смерть людини – це біда,
а вбивство тисяч, то лише статистика.
12.05.22р.
Mykola Sobol
Auf den ersten Blick dachte ich vor kurzem, etwa Ende April, das Foto des blühenden Baumes, das unser langjähriger Bekannter (seinen Namen nenne ich nicht, um ihn nicht in Gefahr zu bringen) auf seine Facebookseite gestellt hatte, sei aus seinem Dorf in der Westukraine. Doch dann las ich seine Zeilen dazu: "Es wird Abend und die Traubenkirsche blüht. Ich wünsche Euch eine gute Nacht. Vergesst nicht, für uns Sünder zu beten!" Am nächsten Tag folgte ein weiteres Foto des Baumes, mit der kurzen Erläuterung: "Bei uns blühen auch weiterhin die Traubenkirschen. Und wir danken für Eure Gebete." Da dämmert mir, dass er an der Front ist. Er, der sich zutiefst seinem Herrn und Heiland verpflichtet weiß.
Es ist selten, dass er sich von dort meldet, meist mit Naturaufnahmen, doch zwischendurch auch mit Fotos seines seit unserer Bekanntschaft so stark gealterten Gesichts. Jedesmal erschrecke ich vor seinem Anblick, ich denke, er ist doch ungefähr mein Jahrgang. Einmal schreibt er:
" ... und es ward Abend, und es ward Morgen - etwa zwei Monate bin ich schon im Krieg ...
Nach dem hellen Tag sehne ich mich, und nach Frieden."
Und dann, nach längerer Pause, sehr zuversichtlich:
"Einer hat sich in den ersten Tagen freiwillig beim Wehrkreiskommando gemeldet.
Einer hat einen Hilfskonvoi ins Rollen gebracht, ungeachtet der Raketen, denen er ausgesetzt sein könnte.
Einer kehrte aus dem Ausland in die Ukraine zurück und begab sich sofort zum Wehrkreiskommando.
Einer sendet regelmäßig das Geld, das er irgendwo in der Ferne mühsam verdient.
Einer lässt seinen Arbeitsplatz hinter sich.
Einer hat das ganze Geld, das er für den Erwerb der ersehnten, ersten eigenen Wohnung zusammengespart hat, den ukrainischen Streitkräften gespendet.
Einer zerbricht sich den Kopf, um sinnvolle Informationskampanien in die Wege zu leiten.
Einer, der unter der Okkupation geblieben ist, tut alles, um für die ukrainische Armee vorzuarbeiten und wartet geduldig auf sie.
Einer ... Ich wüsste gerne, ob es überhaupt irgendeinen Ukrainer gibt, der nichts zum Sieg beisteuert."
Foto: Traubenkirschenzweig an einem Marktleuthener Gartenzaun
Aus dem Ausland meldet sich auch der Dichter Anatoly Polishuk. Er hat das Rentenalter nahezu erreicht und arbeitet schon seit Jahren dort. Von seiner Ausbildung her ist er Ingenieur. Aufgrund mangelnder militärischer Erfahrung würde man ihn wohl kaum im Kriegsdienst einsetzen. So spendet er alles, was er erübrigen kann, für die ukrainische Armee. Um seine Landsleute aufzumuntern, lässt er ihnen Gedichte zukommen.
Voller Freude darüber, dass mir seine Gedichte gefallen, schickt er mir ein Lied: Sein Freund Oleksandr Sokolow, der schon seit Längerem in Deutschland lebt, hat eins seiner Gedichte vertont. Es ist für Euch eine schöne Möglichkeit, in die Wärme der ukrainischen Sprache hinein zu lauschen. (Der Text des zweiten Liedes, das in dem Link zu hören ist, stammt von einem andeen Autor.)
https://soundcloud.com/sascha-sokolov/men-zdatsya-oleksandr-sokolov?si=7db7cfa17dc1407a8b867c498071434f
Polishuks Weg zur Lyrik kann man als außergewöhnlich betrachten. Lange Zeit beschäftigte er sich aus Interesse mit religiösen Fragen und suchte dazu das Gespräch mit Geistlichen verschiedenster Konfessionen. Acht Mal las er die gesamte Bibel und fand immer wieder etwas Neues für sich darin. Doch sogar die Pfingstler und Freikirchler betrachteten ihn als Häretiker. Dann sagte ihm ein Geistlicher voraus, er werde beginnen, Gedichte zu verfassen. Ihm, dem von jeher Mathematik und Physik näher waren, als die Beschäftigung mit der Sprache, erschien das äußerst seltsam. Bis ihm eines Nachts Igor Talkow im Traum erschien, der ihm ein Gedicht zu einem religiösen Thema diktierte. Als Anatoly Polishuk erwachte, schrieb er es sofort nieder. Der zum Teil ukrainischstämmige, russische Komponist, Schauspieler und Dichter Igor Talkow, bekannt dafür, systemkritisch zu sein, wurde 1991 in bei einem Auftritt in St. Petersburg erschossen. Der Mord wurde niemals aufgeklärt. Man nimmt an, dass der KGB ihn in Auftrag gegeben hatte.
Mich hat Anatoly Polishuks Gedicht über einen anderen seiner Träume sehr berührt:
Heut´ in der Nacht, da träumte mir ein Fest
Heut´ in der Nacht, da träumte mir ein Fest,
Dass schon der Krieg zuend´ gegangen war.
Der Menschen viel, mit so viel Blumen
vor lauter Freude strömten Tränen.
Da waren Helden, einfache Menschen,
Und Küsse gab´s, ein Marsch erklang.
Und überall wehten die Flaggen -
blau-gelber Farbe, unser Ton.
Oh, welch´ ein Glück ist das, der Sieg,
wenn rein und frei dann ist das Haus.
Doch wie viel Jahre gingen hin,
die unter fremder Flagge wir gelebt.
Und ich erwacht´, im Alltag wieder.
Verzeiht, dass ich´s Euch mitgeteilt,
wie märchenhaft doch ist die Zukunft.
Doch heut´ den Helden zoll´ ich Ehr´.
Сьогодні снилось мені свято
Сьогодні снилось мені свято,
Що вже скінчилася війна.
Й людей так з квітами багато,
Котилась з радості сльоза.
Були герої й просто люди,
Були цілунки, і грав марш.
І прапори були повсюди –
Жовто-блакитний колір наш.
Яке це щастя – перемога,
Коли є вільний й чистий дім.
А скільки літ ішли до того
Й під прапором жили чужим.
Прокинувся, і знову в будні.
Я вам з побаченим ділюсь.
Яке казкове те майбутнє,
А нині героям поклонюсь.
Anatoly Polishuk, 12.05.2022 р.
Eine liebe ukrainische Freundin, die in Deutschland wohnt, weist mich auf das Gedicht "д о н ь ц і" ("An die Tochter") von Pavlo Vyshebaba hin, das Ihr auf seinem Facebookblog im Eintrag vom 17. Mai findet:
https://www.facebook.com/search/top?q=pavlo%20vyshebaba.
Er, der an der Front ist, wendet sich darin an seine Tochter, die in fernen Landen weilt, und bittet sie darum, ihm nicht vom Krieg zu schreiben. Lieber soll sie ihm davon berichten, wie das Leben der Menschen dort ist, zum Beispiel, wie sie ihre Katzen nennen. Und wenn sie dort nach der Ukraine gefragt wird, so bittet er, soll sie nicht von der Flucht und den Schrecken des Krieges erzählen, sondern davon, wie schön es in der Ukraine ist und wie gut man dort leben konnte. Und sie soll alle in die Ukraine einladen, sodass sie diese mit eigenen Augen kennenlernen können.
Das Gedicht wurde bereits von Anastasia Krasowska ins Deutsche übersetzt, weshalb ich es hier nicht in voller Länge wiederhole. Einen Eindruck von Pavlo, der von Beruf Journalist ist, könnt Ihr Euch verschaffen, wenn Ihr seinen Namen bei YouTube eingebt, falls Ihr nicht zum Kreise der FB- Nutzer gehört.
Ich habe indessen auf FB ein weiteres Gedicht von ihm gefunden, allerdings bislang nur als Video. Dort wird es von einer mit ihm befreundeten, jungen Autorin im Dialog mit ihm vorgetragen. Er selbst schreibt dazu "Sie hat es regelrecht für Euch durchlitten." Mich hat es sehr bewegt, es anzusehen und anzuhören, es sind Worte, mit denen eine junge Frau ihren Liebsten an der Front wissen lässt, wie sehnlich sie sich wünscht, dass er heil zurückkehrt. Die Freundin rezitiert es voller Betroffenheit, mit Tränen in den Augen.
In einem weiteren Eintrag berichtet er von einem Gespräch mit seinen Kameraden an der Front, aus dem deutlich wird, wie wichtig für sie das Wissen darum ist, dass sie von ihren Lieben gebraucht werden.
Muss man nicht angesichts des Grauens, das über die Ukraine hereingebrochen ist, andere Themen finden, an die man denken kann? Im Gedanken daran, dass man sein Leben für das geliebte Heimatland lassen könnte, für die Menschen, die nach einem kommen und für die man von Herzen die Chance ersehnt, ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen - drängen sich da nicht auch die Fragen nach Lebensentwürfen auf, die man nicht verwirklichen konnte? Und nach der Sehnsucht, die ohne Antwort blieb? Manchmal ist es in einer solchen Lage heilsam für die Seele, zur Abwechslung an solche Dinge zu denken.
Zu meiner großen Freude habe ich Andrij Podolianchuk als einen Dichter hinreißender Liebeslyrik entdeckt. Über sich erzählt er mir ganz zurückhaltend: Ein einfacher Mensch sei er, Manager von Beruf, leider Single. Im Schmerz darüber, dass seine große Liebe seine Gefühle für sie nicht erwiderte, begann er Gedichte zu schreiben, die meiner Ansicht nach so innig und sprachlich gediegen sind, dass die Geliebte sich eigentlich durch und durch glücklich schätzen müsste, so gewürdigt zu werden.
Lest selbst:
So selten blüht im Leben doch die Liebe
Selten blüht Liebe zwischen Mann und Frau,
Doch es gibt Grund zur Freude, denn im Leben fand ich Sie,
und Qualen durch unendlich´ Wartezeit.
Es gibt das Glück, da wir zwei uns begegnet sind,
Geduld - da die Erwiderung doch fehlt,
Ich denk´, vereinigen will uns doch Gott,
Mag auch Ihr Herz das vielleicht gar nicht wissen.
Wie eine Rose sind Sie, gibt´s die doch mit Stacheln.
So schwer fällt es, Zugang zu Euch zu finden.
Und oft verursachen mir schmerzhafte Wunden
Eure unendlich spitzen Dornen.
Und unerreichbar sind Sie, schwer sind Sie zu verstehen
und zu begreifen, wofür leben Sie.
Erstreb´ ich doch, in Ihrem Schatten nur zu sein,
an Ihrer Seite jeden Atemzug zu schreiten.
Ich würd´ Sie so gern mit der Seele spüren
und tauchen ein in Ihr geheimnisvolles Sein.
Und irgendwie kann ich Sie keinesfalls vergessen,
wenngleich das alles Jahre liegt zurück.
Ach, geh´n Sie nicht so schnell. Sie sind nicht einzholen.
Verlangsamen Sie ein wenig Ihren Schritt,
erlauben Sie mir doch, Sie zu begleiten,
für Sie die Einsamkeit bekämpfen, zu vertreiben!
Andrij Podolianchuk
Так рідко у житті цвіте любов,
Так рідко у житті цвіте кохання,
Є радість - бо в житті я Вас знайшов,
І мука від безмежного чекання.
Є щастя, бо зустрілись ми удвох,
Терпіння - бо взаємності немає,
Я думаю, з'єднать нас хоче Бог,
Хоч Ваше серце це, мабуть, не знає.
Ви, мов Троянда, є такі колючі,
До Вас так важко є підхід знайти,
І часто рани завдають болючі,
Ваші безмежно гострі колючки.
Ви неприступні, важко Вас збагнути,
І зрозуміти - чим живете Ви,
Я прагну тінню Вашою лиш бути,
І з Вами поряд кожну мить іти.
Я б так хотів душею Вас відчути,
І увійти в Ваш потаємний світ,
Чомусь не можу Вас ніяк забути.
Хоч і минуло уже кілька літ.
Не йдіть так швидко. Вас не наздогнати.
Ви хоч на трішки зупиніть ходу,
Дозвольте з Вами все пройти й здолати,
І геть від Вас прогнати самоту.
Andrij Podolianchuk 12.5.22
Foto: Chrysantheme von Andrij Podolianchuk
Wie sehr ich diesen Männern doch Gottes Schutz und Seine wohlwollende Antwort auf ihre Sehnsucht wünsche!
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