Bilder, mit denen Ralf Haska die Stimmung in Kiew während der Europameisterschaft 2012 dokumentierte:
Vorbemerkung:
Es ist schrecklich, was wir von unseren engen Freunden aus der Ukraine hören: Tief fliegende Flugzeuge, ein abgestürztes Militärflugzeug in der Nähe des Hauses, Übernachtungen im U- Bahnhof, Flucht oder das verzweifelte Bauen von Barrikaden, woran sich auch alte Menschen und Kinder beteiligen, das Knappwerden von Nahrungsmitteln ... Die Gemeindeleiterin berichtete uns, Lebensmittel zu bekommen werde immer schwieriger, vorgestern habe sie im Laden nur noch Snickers und Cola bekommen.
Ich habe etwa 800 Seiten Aufzeichnungen aus den Jahren 2009 bis 2013, die ich eigentlich veröffentlichen wollte. Aber kein Verlag mit fachlichem Lektorat hatte Interesse daran, wie man ja auch sonst wenig oder nur ein verengtes Interesse an der Ukraine zeigte.
Meine Trilogie "Mehr als dreißig Lebenszeichen" baut sich auf um Rundbriefe, die ich damals für unsere Unterstützer verfasst habe. Anliegen dieser über die Jahre gesammelten Texte war es, zu dokumentieren, wie ein fremdes Land und ein fremdes System auf eine in der westlichen Bundesrepublik Deutschland sozialisierte Seele wirkt und von ihr wahrgenommen wird. Außer diesen Briefen habe ich in vielen Kapiteln Eindrücke zu verschiedenen Beobachtungen gesammelt, beispielsweise wie wir den Regierungswechsel von Juschenko zu Janukowitsch wahrnahmen, und vieles mehr.
Wir hatten den besten Beobachtungsposten, den man sich denken kann, denn unsere Wohnung lag nur fünf Minuten vom Präsidentenpalast entfernt. Und bis 2013 waren in den Sommermonaten immer unendlich viele russische Touristen in der Stadt zu sehen, die die freundliche Atmosphäre der Stadt eigentlich wahrgenommen haben müssten. Ich habe oft beobachtet, wie pudelwohl sie sich in Kiew fühlten.
Da Putin es im Moment darauf anlegt, in der Ukraine alles zu zerstören, was die Menschen sich in Freiheit aufgebaut haben, möchte ich Euch hier Erinnerungen daran zur Verfügung stellen, wie sich die Ukraine vor zehn Jahren für uns anfühlte, mit Licht und Schatten. Ich tue das in Dankbarkeit für die unendliche Geduld und Fürsorglichkeit, mit der die Ukrainer uns Ausländern begegneten, und in tiefer Hochachtung vor den Menschen dieses Landes.
Vielleicht ist es dem Einen oder Anderen ein Zeugnis dafür, wie absurd Putins Vorwürfe des Völkermordes an die Ukrainer sind - wofür er die Ukrainer beschuldigt, das ist eigentlich nur ein fadenscheiniger Vorwand, um selbst einen furchtbaren Völkermord zu induzieren.
24. Lebenszeichen: Gibt es ein Leben nach der Euro?
"Kiew, den 16. bis 22.6.2012
Liebe Eltern, liebe Geschwister, liebe Verwandten!
Liebe Paten und Patenkinder, liebe Freunde!
Liebe Freunde der evangelischen Kirchengemeinde St. Katharina in Kiew!
„Gibt es ein Leben nach der Euro?“ Als großes Plakat ist diese Schlagzeile, die für eine Zeitung wirbt, vereinzelt an belebten Orten in Kiew zu finden. Im Ukrainischen ist die Europameisterschaft männlichen Geschlechts, und so könnte die Frage sich gleichlautend auch um den Euro drehen. Da wir nur etwa dreihundert Meter von der Fanzone entfernt wohnen, können selbst bekennende Fußballignoranten wie ich sich dem großen Ereignis nicht ganz entziehen. Und so nehme ich Euch diesmal mit hinein in eine bunt blau- gelbe, laute Fußballwelt.
In den letzten Wochen vor der Meisterschaft wurde hier eifrig und aufwändig gewerkelt, um Kiew europafähig zu machen. Die Häuser im Zentrum der Stadt sind mit großen, blaugelben Tafeln versehen worden, auf denen die Hausnummer und der Straßenname deutlich lesbar auf Ukrainisch und in englischer Umschrift stehen. Außerdem zeigen darauf Pfeile an, in welcher Richtung die nächsthöhere und nächstniedrige Hausnummer zu finden sind. Das ist eine durchaus nützliche Sache, weil in postsowjetischen Städten oft Häuser wirklich kaum auffindbar sind, da sie zum Beispiel irgendwo in zweiter Reihe oder einer Nebengasse stehen. Wie oft bin ich in den vergangenen Jahren schon gefragt worden, wie man zum Haus 10A kommt, einem eleganten Neubaukoloss mit Wellnesszentrum in unserer allernächsten Nachbarschaft. Nach deutschem Verständnis liegt es eindeutig in einer anderen Straße, die aber wiederum hier keinen eigenen Namen trägt. Die, die mich fragen, sind nicht etwa Ausländer, sondern offensichtlich Kiewer, die mir natürlich sofort ansehen, dass ich Ausländerin bin. Trotzdem werde ich ganz selbstverständlich auf Russisch als Ortskundige konsultiert.
Die U- Bahn ist mit zusätzlichen englischen Ansagen versehen worden. Den Text spricht offensichtlich ein Muttersprachler, sodass sich die Namen der Stationen deutlich anders anhören. Die Stationen wurden in Windeseile zweisprachig beschriftet. In der Stadt wurden Touristenwegweiser aufgestellt, es gibt nun sogar einen Wegweiser vom Kreschtschatik zur Lutherischen „Kyrche“. Fußballtouristen haben sich trotzdem kaum zu uns verirrt.
Adidas hat Hochkonjunktur. Snickers verkauft in den Supermärkten einen snickersähnlichen Riegel namens „Footballia“. Unsere Lieblings- Mineralwasserfirma hat zusätzlich zum üblichen Sechslitertrinkwasserkanister einen kleineren Kanister in Fußballform entworfen.
Unsere polnischstämmige Freundin Tatjana erzählte uns vor ein paar Wochen freudestrahlend, dass sie mit ihren Töchtern zu einer Aktion eingeladen sei, bei der man für seine Familie im Schewtschenko- Park einen Baum pflanzen dürfe. Ihr bedeutete dies viel, denn ihre Familie lebt bereits seit drei Generationen mit Unterbrechungen in Kiew. Als ich sie eine Woche später nach ihrem Familienbäumchen fragte, erzählte sie ganz enttäuscht: „Man hat uns betrogen. Wir haben nur Blumen gepflanzt.“
In der Tat sind die Blumenrabatten in Kiew noch schöner, als sonst. In der Hrushewskohostrasse hat man sogar alle Rasenflächen durch neue Rasenplatten ersetzt und das Logo der Europameisterschaft in Blumen angepflanzt. Sehr hübsch!
Tatjana erzählte auch, dass wegen der Bombenanschläge in Dnjepropetrowsk die Anzahl der Müllbehälter in der Stadt reduziert werde. Und wirklich, auf einmal war ein Großteil der plumpen Müllkübel aus Beton an den Bürgersteigen verschwunden. Dazu auch etliche Müllcontainer, die wohl in die Innenhöfe der Häuser verlegt worden waren. So ist es mir schwerer geworden, meine sorgfältig in kleinen Tüten eingesammelten Hundesouvenirs beim Ausführen von Nellie an geeigneten Stellen zu entsorgen. Aber siehe da, vergangenen Dienstag wurden stattdessen plötzlich zahlreiche, zierliche, großmaschige Drahtkörbe an den Bürgersteigen fest montiert, die freilich wegen ihrer Durchsichtigkeit ein Kaschieren von Minen erschweren.
Auf dem Weg zur Deutschen Botschaft meinte ich neulich, mich verlaufen zu haben, denn am U- Bahnhof Teatralna steht auf einmal ein hochmodernes, verglastes Geschichtsmuseum. Unsere Kinder wussten allerdings gleich einzuordnen, dass das doch das Gebäude sei, das wir seit drei Jahren als schäbig mit einem grünen Baunetz verhängte, baufälligen Ruine kannten.
Eins unserer Gemeindeglieder machte mich darauf aufmerksam, dass für die Europameisterschaft eigens Hochgeschwindigkeitszüge koreanischer Produktion nach Donezk, L´wiw und Charkow eingerichtet wurden, um den Fußballtouristen die unbequeme, schaukelnde, rüttelnde Bahnreise, die eine ganze Nacht dauert, zu ersparen. „Ich hätte es besser gefunden, wenn die Fans aus Europa unsere stinkende, lärmende Elektritschka kennengelernt hätten, die überfüllt irgendwo lange auf der Strecke stehen bleibt, wo wir aneinander gepresst schwitzend im Stehen warten, bis sich etwas bewegt.“ Die siebzigjährige, engagierte Dame selbst nimmt diesen beschwerlichen Weg, der sie für eine Tour zwei Stunden kostet, jeden Sonntag auf sich. Öfters schleppt sie noch eingelegte Gurken oder andere Köstlichkeiten mit, um uns damit eine Freude zu machen. Nur an den Tagen, wo schwüles Wetter es ihr wegen ihrer Herzkrankheit zu sehr erschwert, kommt sie nicht, entschuldigt sich dann aber auf alle Fälle telefonisch bei mir dafür, dass sie nicht am Gottesdienst teilnehmen kann.
Unmittelbar vor Anbruch der Europameisterschaft durften wir zur Pfarrfamilienkonferenz nach Otschakow ans Schwarze Meer fahren. Untergebracht waren wir in einer sogenannten „Basa“, einem typischen Ferienlager, wunderschön direkt am Strand gelegen. Am ersten Abend haben wir den unglaublichsten Vollmond gesehen, den ich je erlebt habe, einen riesigen roten Ball, der dicht über den Wellen schwebte. Ich hatte mich zunächst gewundert, warum die Sonne im Süden untergeht - und mich dann später daran gefreut, wie er über den silbern beschienenen Wassern leuchtete. Wiederfinden würde ich das Ferienlager allerdings nicht, denn es gibt keine Wegweiser in die Ferienkolonie, wo sich eine Basa an die nächste reiht. Und die Straße dorthin war kaum befahrbar, sodass es für unseren kleinen Mietwagen ein wahres Glück war, den Kollegen in der Kolonne zu folgen und rechtzeitig zu sehen, wie man Schlaglöchern ausweichen konnte. Verpflegt wurden wir übrigens sehr köstlich (natürlich mit Haferbrei plus Wurst, oder Buchweizengrütze plus Schnitzel zum Frühstück und ähnlichen uns ungewohnten Gerichten) in einem riesigen, schwülen, dunklen Speisesaal, in dem grell glitzernde, große Luftballondelfine über den Tischen schwebten, die alle liebevoll mit von Orchideenmotiven in knalligen Farben strotzendem Wachstuch bezogen waren. Tee und Kompott (ein Getränk aus dem verdünnten Saft von stark gesüßt eingemachtem Obst), wurden aus einem einzigen Teekessel eingeschenkt, was für eine Gruppe von über vierzig Personen natürlich seine Zeit brauchte. Da es noch Vorsaison war, hatten wir den Strand fast für uns allein, einfach traumhaft! Auf dieser Basa finden übrigens die Gloria- Sommerlager der DELKU statt und wir haben richtig Lust bekommen, daran teilzunehmen.
Thematisch haben wir uns mit den Themen Konfirmandenunterricht und Kirchenzucht auseinandergesetzt, für unsere noch junge Kirche brandaktuelle Themen.
Auf der Rückreise hatten wir dann für uns persönlich sehr wichtige Aha- Erlebnisse. Um uns den Umweg von drei Stunden über Odessa zu sparen, hatten wir uns von mehr oder weniger ortskundigen Kollegen beraten lassen und geplant, kurz vor Nikolajew eine Strecke über die Landstraße einzuschlagen. Einer der Kollegen versicherte, er sei die Straße vor längerer Zeit gefahren, naja, sie habe halt Schlaglöcher, wie alle Straßen in der Ukraine, sei aber im Großen und Ganzen durchaus befahrbar. So bogen wir also bei sengender Hitze wohlgemut von der sogenannten Trasse ab (so werden die großen Verbindungsstraßen hier genannt, manchmal haben sie sogar einen autobahnähnlichen Charakter) und waren zunächst angenehm überrascht. Der Weg führte über Berg und Tal durch ein landschaftlich reizvolles Gebiet, die Straße war breit und übersichtlich und in relativ gutem Zustand. Uns zu verfahren bestand kaum Gefahr, auf der Karte war nur diese eine Straße eingezeichnet und es gab kaum Abbiegungen.
Vor dem zweiten Dorf ging es steil bergab, wobei die Straße links und rechts von einem schmalen Grünstreifen und sehr einer tiefen Böschung gesäumt war. Wir hatten die Talsenke noch nicht erreicht, als der klapprige PKW vor uns auf einmal jäh beschleunigte und rechts ausscherte. „Da geht doch gar kein Weg ab!“ schrien wir innerlich auf. Ehe das Fahrzeug hinunter kippte, riss der Fahrer das Steuer herum und prallte im rechten Winkel auf das kleine Stück Leitplanke der Gegenfahrbahn, das glücklicherweise aus grauer Vorzeit ausgerechnet hier noch stehen geblieben war. Ralf hatte gut reagiert, sodass wir in sicherer Entfernung dahinter zum Halten gekommen waren. Trotzdem zitterten mir die Knie, wir alle waren zutiefst erschrocken. Binnen kurzer Zeit hob der Fahrer verwundert seinen Kopf vom Steuer, betastete seine Stirn und setzte den Wagen dann zurück, wendete vorsichtig, um wieder in Fahrtrichtung zu kommen und hielt wenige Meter später an. Ralf fuhr heran und fragte durchs Beifahrerfenster, ob er Hilfe brauche. Brüsk wehrte der Mann ab. Wir vermuten, dass er am Steuer eingeschlafen war oder getrunken hatte. Im zweiten Fall hätte ihn eine Gefängnisstrafe erwartet.
Bedrückt fuhren wir weiter. Die Straße wurde schlechter, die Landschaft schöner. Grasende Ziegen, Pferde, Kühe und freilaufendes Geflügel am Straßenrand gehören hier auf dem Land dazu. Ein wenig befremdete mich, dass in den durchfahrenen Dörfern niemand Obst oder Gemüse an der Straße zum Verkauf anbot. Es waren sehr wenige Fahrzeuge unterwegs, eigentlich eine Idylle. Etwa auf der Hälfte dieser Nebenstrecke zeigte uns ein Wegweiser an, dass in achtzehn Kilometern Beresiwka, ein etwas größeres Dorf, auf uns wartete. Vor uns fuhr nun ein kleiner Lada, der bald eine Art Slalom zu vollführen begann. Vom einstigen Belag der Straße war kaum etwas übrig, dafür war sie von bis zu über fünfzig Zentimeter tiefen und oft meterlangen Kratern durchfurcht. Die Fahrt entwickelte sich zu einem Alptraum. Wie gut, dass wir uns an diesem Lada orientieren konnten! Inzwischen durchfuhren wir ein kleines Waldgebiet. Zahlreiche Fahrer hatten, um die Straßenschäden zu umfahren, den unbefestigten Seitenstreifen ausgefahren, doch auch der war von groben Unebenheiten durchsetzt. Den Lada sahen wir oft quer zur Strecke vor uns, dann wieder lang auf der ehemaligen Gegenfahrbahn, zwischendurch blieben wir fast in Löchern hängen, die wir erst von nahem wahrnahmen. Und auf einmal war der Lada wie vom Erdboden verschluckt. Zu allem Überfluss begann es nun zu regnen, sodass durch die Frontscheibe kaum noch etwas zu erkennen war. Im Schneckentempo versuchten wir, weiter zu kommen. Mehr als einmal hatte ich das Gefühl, dass wir gleich die Böschung hinunterkippen. Dann entdeckten wir den Lada wieder und zwar auf einem Feldweg, der parallel zur Straße entlangführte. Noch konnten wir uns nicht entschließen, die „Straße“ zu verlassen, einmal schrie Bernhard auf: „Papa, das sind ja nur noch Teerfetzen!“. Die 18 Kilometer erschienen uns wie eine Ewigkeit. Zwischendurch kam der Lada auch für einige Meter wieder auf die Straße. Doch als wir auf dem Feldweg schließlich einen großen Traktor fahren, nein, sogar rasen sahen, versuchten auch wir uns an den Abwegen und fuhren damit besser. In der Tat waren das Abwege! Denn sie lagen bedeutend tiefer als die ursprüngliche Straße und waren nur durch schräge, erdige Spuren zu erreichen. In ihrer Not hatten die Leute nicht nur einen, sondern zahlreiche Parallelwege ausgefahren. Ein aussagekräftiges Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft, in der sich jeder selbst helfen muss, so gut er eben kann und das dann auch mehr oder weniger rücksichtslos tut. Eigentlich hätte man für diese Fahrt einen Panzer gebraucht, besonders, als uns zu allem Überfluss auf einer schiefen Ebene in einer Engstelle ein Lastwagen entgegenkam, dessen Fahrer darauf bestand, seinen Weg genau da fortzusetzen, wohin Ralf unser Auto gelenkt hatte, um ihm die Zufahrt zu einem schöneren Wegabschnitt zu gewähren.
Nach einer zermürbenden Fahrt über Land waren wir heilfroh, schließlich wieder auf die Trasse Odessa – Kiew einbiegen zu können. Doch waren wir uns wegen des holprigen Weges, auf dem wir eine Wildnis durchfuhren, noch weniger als einen Kilometer vorher unsicher, ob es überhaupt gerade an dieser Stelle einen Autobahnzubringer mit Auffahrt gebe, obwohl die Leute im drei Kilometer entfernten Dorf uns das zugesichert hatten. Es war für uns sehr wichtig, zu sehen, wie ganze Landstriche hier durch mangelhafte Transportwege regelrecht von der Zivilisation abgeschnitten sind. Nicht auszudenken, wie man sich da bei einem medizinischen Notfall helfen soll, wie man ein hochfieberndes Kind zum Arzt bringen oder gar im Winter Hilfe holen könnte. Zwar kann man dort regelrecht die Fruchtbarkeit der Erde riechen und sich vorstellen, dass es möglich ist, mit der mühsam mit uralten Hilfsmitteln erwirtschafteten Ernte den Winter zu überleben. Doch muss es nicht zwangsläufig depressiv machen, dass in den Akten Straßenreparaturen vermerkt werden, die aber tatsächlich niemals stattgefunden haben, weil die Verantwortlichen sich das Geld dafür in die eigene Tasche gesteckt haben? Und man hat keinerlei Handhabe gegen die Betrügereien der Mächtigen. Ich kann es jetzt besser nachvollziehen, warum die Menschen in solchen Gebieten sich von Gott und der Welt vergessen fühlen. Und ich habe für mich beschlossen, dass ich eines Tages, wenn wir wieder in Deutschland leben, mit Freuden meine Steuern zahlen werde, weil ich eine komfortable Infrastruktur zu schätzen weiß.
Als ich am nächsten Tag beiläufig unserem Fahrer von dieser Rückfahrt erzählte, explodierte der sonst recht ruhige Mann fast vor Zorn: „Das ist nur in Kiew, wo etwas erneuert wird. Weiter ins Land hinein gibt es überhaupt keine Straßen mehr.“ Bitter stimmt auch mich ein riesiges Reklameplakat einer Immobilienfirma, das ich tagtäglich auf unserem Hundespaziergang sehe: Die Aussicht aus einem riesigen Fenster, das von der Decke des Wohnraums bis zum Fußboden reicht, man blickt auf ein luxuriöses Neubaugebiet im Grünen, das romantisch gezeichnet, nicht fotografiert ist, im Vordergrund ein bunter Kinderspielplatz und Kinder, die Fahrrad fahren, links ein Tennisplatz, im Zimmer selbst Designermöbel und eine Bodenvase mit porzellanweißen, großen, teuren Blüten. Das Ganze trägt die Überschrift „Ihrem Komfort sind keine Grenzen durch Wände gesetzt. Je besser die Wohnung, desto besser das Leben.“ Komfort bedeutet im Russischen auch so viel wie „Wohlbefinden“. Angesichts der Wohnsituation der meisten Ukrainer empfinde ich das Plakat als blanken Hohn.
Auf diesem Hintergrund also erleben wir, wie luxuriös sich Kiew geschmückt hat, um die Europameisterschaftsgäste zu empfangen. „Stolz begrüßt Kiew seine Gäste.“ lautet der Slogan, den man, natürlich auf euroviolettem Hintergrund überall am Flughafen Borispol lesen kann, an einigen Stellen sogar in seltsamer englischer Übersetzung. Großartige Zufahrtswege und noch ein absolut moderner, neuer Terminal wollen den Ankommenden Vertrauen einflößen. Ein weiterer Werbespruch, offensichtlich ein Zitat des Präsidenten, ist überall in der Stadt zu lesen: „Gemeinsam schreiben wir Geschichte.“ Als ich vorgestern Bernhard von seinem Freund abholte, kam ich am Schwedentreffpunkt vorbei und musste schmunzeln über die schwedische Variante des Slogans auf einer großen, blaugelben Flagge: „Wir gewinnen oder verlieren - aber gemeinsam.“ Kiew ist überflutet von schwedischen Fußballtouristen! Sie scheinen sich hier sehr wohl zu fühlen, bei unseren niedrigen Bierpreisen. Über fröhliches Gröhlen und bis auf die Unterhose entkleidete junge Männer, die sich ungeniert dem Lesja- Ukrainka- Denkmal auf dem Rasen zu Füßen legen, nachdem sie sich in dem es umgebenden flachen Brunnen den Mut gekühlt haben, sieht man hier taktvoll hinweg. „Ich war erstaunt über den Zustand der Fans“ flüsterte mir neulich verschämt eine ukrainische Mitarbeiterin der Deutschen Schule zu, die auf dem Heimweg nach einem Fußballprojekt der Schule in einen Haufen angetrunkener Schweden hineingeraten war.
Sich aufregen darüber, dass die Gäste aus Europa sich daneben benehmen? Aber nein! Im Gegenteil, die Kiewer empfinden warmherziges Mitleid mit den armen Schweden, die für 60 Euro die Nacht (!!!) auf der Truchanow- Insel im Dnjepr in Zelten campieren. „Ich war dort spazieren“ erzählt mir meine Nachbarin „und hab es selbst gesehen: Das sind alles junge Leute, die es sich ganz offensichtlich nicht leisten können, in ein Hotel zu gehen. Und dann müssen sie so viel bezahlen, dabei sind bis jetzt die Sanitäranlagen dort nicht fertiggestellt, sie haben zu wenig Toiletten und nur kaltes Wasser. Und dann regnet es nachts und sie frieren in ihren Zelten.“
Als wir neulich unseren Gemeindeausflug genossen, eine Dampferfahrt auf dem Dnjepr, hatten wir Haskas allerdings den Eindruck, dass die Schweden es sich ganz gemütlich auf diesem Wildcampingplatz eingerichtet haben, den sie auch spät nachts von der Fanzone aus zu Fuß erreichen können. Eine riesige Flagge aus blauer und gelber Plane haben sie sich malerisch ans Ufer gelegt und so das Stadtbild bereichert. „Über 40 000 Schweden sind angereist“ sagte unser Nachbar mir anerkennend, „und das in ein Land, das selbst nicht mal 46 Millionen Einwohner hat“. In der Fanzone hat man eine große „Swedish Corner“ eingerichtet und vorsichtshalber die Getränkestände auch auf Schwedisch beschriftet. Überall sind gelbe Trikots zu sehen, wobei das ukrainische und das schwedische Trikot nur für einen Kenner auf den ersten Blick zu unterscheiden sind.
[...] Und es ist immer wieder beindruckend, auf diesem wirklich sehr breiten Fluss unterwegs zu sein und auf wenigen Kilometern die unterschiedlichsten Eindrücke zu sammeln von goldenen Kuppeln, und fast noch wilder Natur zwischen hässlichen sowjetischen Hochhäusern und hochmodernen, edlen Wohnblöcken.
Seit die Spiele begonnen haben, haben wir, wie viele andere Bewohner des Zentrums, die Miliz auf dem Hof. Im Laufe des Vormittags und jeden Tag zu einer anderen Zeit, werden die Soldaten in gelben Marschrutkas angefahren, außerdem stehen mehrere Fahrzeuge der Spezialeinheiten des Innenministeriums mit ihren schwer bewaffneten Berkutsoldaten bei uns bereit, sowie spärlich ausgestattete Krankenwagen und der altertümliche Löschzug der Feuerwehr, der sich nur mit äußerster Mühe die steile Luteranska hochquälen kann. Ich habe meiner Nachbarin gegenüber gescherzt: „Wir leben jetzt ja so sicher…“ – „Gut, dass sie da stehen. Da können wir ruhiger schlafen. Und außerdem pissen uns die Leute nicht wieder auf den Hof, wie bei der Orangenen Revolution.“ meinte sie. Auch im Gespräch mit Natalja habe ich das militärische Aufgebot vor unserer Haustür erwähnt und gefragt, wer mehr zu fürchten sei, Einbrecher oder die Miliz. „Charis, Sie sind das wahrscheinlich nicht gewöhnt, dass die Milizionäre Banditen sind. Aber wir schon. Eigentlich schon unser ganzes Leben lang.“ sagte sie.
Bis jetzt ist es meines Wissens noch nicht zu einem größeren Einsatz der Bereitschaftseinheiten gekommen, jedenfalls habe ich keine Aktivitäten von unserem Hof aus beobachtet. Dafür sieht es mitunter ganz witzig aus, wenn mehr als zehn uniformierte Berkutsoldaten sich an den Fitnessgeräten der benachbarten Schule trainieren, oder sich zu fünfzehnt auf diesem Spielplatz um einen winzigen Laptop gruppieren, um einen Film anzusehen. Vereinzelt hat es auch schon freundschaftliche Boxkämpfe in Uniform auf unserem Territorium gegeben.
Nachmittags wird es von der Fanzone her laut. Neulich wollte sich einer unserer Kirchenvorsteher mit seiner neunjährigen Tochter das Spiel England- Frankreich auf den Bildschirmen der Fanzone ansehen und fragte uns, ob wir uns nicht dazu gesellen möchten. Wir hatten vorher noch mit Tatjana und ihren beiden Mädchen zu Abend gegessen und staunten nicht schlecht, als wir beim Aufbruch auf unserem Hof eine Gruppe ukrainischer Fans entdeckten, die sich für das Spiel Schweden- Ukraine vorbereiteten, mit blaugelben Perücken und blaugelb bemalten Gesichtern, einer blaugelben Tröte und Fahnen. Beim Abschied am Zebrastreifen fragte Tatjana unseren Fußballfan Bernhard: „Für wen wirst Du fiebern, für England oder für Frankreich?“ Bernhard musste erst überlegen, da tönte es selbstbewusst und laut „Für die U- kra- i- ne!“. Die Fußballfans von eben waren uns nachgekommen und drückten Friedrich fröhlich lachend mehrere Fotoapparate in die Hand. Dann posierten sie zu vierzehnt auf der Fahrbahn und bedankten sich freundlich für die Aufnahmen. Das Spiel haben wir dann allerdings in einem Café angesehen, weil das Mädchen von einem einstündigen Spaziergang in der Fanzone völlig erschöpft war. Und das war auch gut so, denn es sollen 150.000 Fans dort gewesen sein. Wir haben sie dann noch morgens vor der Schule feiern gehört. Im Russischen und Ukrainischen fiebern die Leute übrigens nicht nur für Fußball, sondern „sind krank“. „Für wen wirst du krank sein?“ fragt man einander hier vor einem Spiel.
Aus dem Café zurückkommend haben wir uns wie im Krieg gefühlt, weil die Hubschrauber mit ihren Kameras ihre Schleifen über das Stadion bis über unser Haus ausdehnten. Und wenn in Kiew gespielt wird, sehen wir aus unseren Fenstern das Stadion erleuchtet und hören die Fans von dort und von der Fanmeile sozusagen Stereo.
Inzwischen ist Bernhard auch mehrmals in Ralfs Begleitung zum Public Viewing in der Deutschen Botschaft gewesen. Das Spiel Deutschland- Niederlande habe ich parallel dazu auf Radio Ära gehört, weil ich beunruhigt war, ob die beiden zu später Stunde heile durch die Fanzone nach Hause kommen. Ich habe mich köstlich darüber amüsiert, wie offensichtlich beide Kommentatoren Partei für Deutschland genommen haben: „Es ist völlig klar, die Niederländer sind in keinster Weise auf die Europameisterschaft vorbereitet. Sie machen den Eindruck, als ob sie nur zum Feiern hergekommen sind. Na, Chlopzy (d.h. Jungs), zeigt doch wenigstens einmal, dass ihr richtige Fußballer seid. Nein, dem ausgeklügelten, ausgereiften Spiel der Deutschen sind die überhaupt nicht gewachsen.“ Als dann doch noch ein Tor für Holland fiel, wirkten die beiden etwas betreten.
Eine ukrainische Freundin hat sich Fans aus Deutschland als Übernachtungsgäste vermitteln lassen. „Das Ehepaar hat mir sehr gut gefallen.“ erzählte sie. „Aber sie hatten so viele Probleme… Der Flug, mit dem sie zum Spiel nach L´wiw gelangen sollten, wurde kurzfristig auf ein Uhr Nachts verlegt. Sie hatten alles gebucht und bezahlt und haben sich das Spiel dann doch nur in der Fanzone ansehen können. Ich wollte ursprünglich an ihnen ein bisschen Geld verdienen, aber ich bin einfach keine gute Geschäftsfrau. Vereinbart hatten wir Bed & Breakfast, aber dann war es mir einfach peinlich, mit meinem Sohn in der Küche Mittag- und Abendessen einzunehmen und die Beiden hungrig zu lassen. So haben sie drei warme Mahlzeiten am Tag von mir bekommen.“ Als sie mich später bat, mir den englischen Abschiedsbrief der Gäste zu übersetzen, da ihr Sohn gerade nicht zu Hause war, war sie sichtlich beschämt über die herzlichen Dankesworte zu ihrer Gastfreundschaft. Dann bat sie mich, mir zu helfen, einen Gruß an Freunde in Deutschland zu schreiben. Ich wunderte mich, dass der Brief merkwürdig unkonkret blieb und ermunterte sie, mit ihren Beobachtungen zur Meisterschaft etwas plastischer zu erzählen. „Natürlich freuen wir uns über die vielen Gäste in Kiew, die jetzt sehen können, dass unsere Stadt wunderschön ist. Doch machen wir uns auch ein wenig Sorgen, wie es danach weiter geht.“ diktierte sie mir dazu. Erst als ich nachbohrte, erläuterte sie mir, es werde eine große Inflation geben und die Gehälter werden, wenn überhaupt, dann nur mit monatelanger Verzögerung ausgezahlt werden. „Alles haben sie aus uns herausgepresst, was noch möglich war. Aber davon schreiben wir lieber nichts nach Deutschland.“ sagte sie.
Friedrich ist vorgestern zum ersten Mal allein geflogen. Er hat sich riesig auf die Paddelrüstzeit in Schweden gefreut, zu der sein Freund Rico ihn eingeladen hat und hat die Vorbereitungen für seine Reise, wie Kofferpacken und Geschenke Besorgen souverän und selbstständig organisiert.
Annegret arbeitet in jeder freien Minute ehrgeizig an ihren Wochenplänen für die Schule. Ist sie damit fertig, so arbeitet sie systematisch die Schulbücher ihrer Brüder durch. Ihre Aufgaben führt sie als schlagende Argumente gegen das Geige- und Klavierüben ein, ihre Geigenlehrerin war beim Abschied vor der Sommerpause recht betrübt über ihre ausgebliebenen Fortschritte und ihren wiederborstigen Kampf gegen jede Anstrengung für die Musik. Ob sie in ihrer Schulbesessenheit zwei Monate Sommerferien heil überstehen wird? Heute abend hat sie uns eröffnet, dass sie ein Buch über Nellie schreibt.
Niemand will uns glauben, dass wir noch bis zum 27. Juni Schule haben. Unsere Wochen verliefen allerdings sehr unregelmäßig, weil die Fußballtage mit Spielen in Kiew, zu denen schon morgens die Innenstadt gesperrt wurde, durch Samstagsunterricht ersetzt wurden. [...]
Der Sommer hat uns nun endlich und auch richtig, mit Temperaturen über dreißig Grad. Beim Spazierengehen in der Stadt werden wir öfters benetzt mit dem Kondenswasser, das aus den lärmenden Klimaanlagen tröpfelt. Die Leute pflücken sich im Vorübergehen Kirschen und Maulbeeren zum Naschen von den Bäumen, auch wenn sie wissen, wie viele Stunden am Tag sie von den Abgasen der Staus imprägniert wurden. Noch sind die Bäume und Rasenflächen sattgrün, in ein paar Wochen wird viel in der Hitze verdorrt sein.
Ich mag diese Ukrainer, die in der Lage sind, beim Optiker eine komplizierte Brillenreparatur spontan binnen fünf Minuten für weniger als drei Euro auszuführen, oder in einer vollen U- Bahn ein Violinduett live und glockenrein zu spielen, sich dabei vorsichtig zwischen den dicht an dicht stehenden Leuten durchzuschlängeln und, immer noch musizierend, mit charmantem Lächeln einen kleinen Obolus in einer großen Plastiktüte aufzufangen.
Wir danken Euch herzlich für all Eure Gebete für dieses Land, das wieder einmal auf Wahlen zugeht, für seine Leute und unsere Gemeindeglieder. Wir danken Euch für Eure liebe Post und Emails, Lichtblicke in unsrem rasanten Alltag und Eure lieben Geburtstagsgeschenke für die Frühlingskinder unserer Familie. Wir danken Euch für Eure herzliche Verbundenheit und Euer Interesse.
Wir wünschen Euch Geborgenheit in Gottes Segen und schöne Sommermonate!
Es grüssen Euch dankbar
Charis und Ralf Haska
mit Bernhard, Annegret
und – diesmal aus einer anderen Himmelsrichtung - Friedrich"
Weitere, im Text erwähnte Eindrücke aus Kiew, Juni 2012
Fotos: Ralf Haska
Kommentar schreiben