Schriftsteller aus Hochfranken unterwegs ins Grenzenlose
Lesewanderung des VS Bayern und des VS Sachsen Anhalt
„Der Brocken ist der oft vom Dunst umgebene Traumberg meiner Kindheit. … Aber ... es schien zu Beginn der 70er Jahre leichter, einmal im Leben auf den Mond zu reisen, als auf den Brocken.“ Mit angehaltenem Atem lauschen die Zuhörer am Samstag, den 19. September 2020, in der Kirche St. Sixtus zu Ermsleben den Worten der in der Stadt aufgewachsenen Autorin Elke Strauchenbruch. Seit Jahrzehnten ist sie als Historikerin und Stadtführerin in Wittenberg tätig und hat zahlreiche Bücher über Lebensbedingungen zu Luthers Zeiten verfasst.
Die Veranstaltung ist Auftakt einer besonderen Lesereihe des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS). Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums der Deutschen Einheit haben die Landesverbände des VS Bayern und des VS Sachsen- Anhalt einen Sammelband mit dem Titel „… unterwegs ins Grenzenlose“ herausgegeben, den es nun in Form einer Lesewanderung vorzustellen gilt. Jeweils sechs Autorinnen und Autoren aus Bayern und Sachsen- Anhalt haben sich gemeinsam auf den Weg gemacht, um an vier Abenden an vier verschiedenen Orten Lesungen aus der gemeinsamen Anthologie zu halten. Das Buch enthält Beiträge über verschiedenste Grenzerfahrungen. Humorvolle Texte wechseln sich darin mit der Verarbeitung geschichtlicher Ereignisse ab.
Die Lesewanderung war von langer Hand geplant. Der Ausschreibung im Juli 2019 folgte ein gezieltes Verfassen der Texte zum gestellten Thema. Mit örtlichen Partnern waren Lesungsorte wie ein altehrwürdiger Gutshof, ein Museum und ein Kunsthof bereits vereinbart. Um die Lesereise trotz der Coronakrise durchführen zu können, mussten kurzfristig größere Säle gefunden werden. Kirchengemeinden in Ermsleben, Harzgerode und Kelbra öffneten dafür unter Beachtung ihres Hygienekonzepts bereitwillig ihre Türen.
Entstanden war die Idee einer engeren Zusammenarbeit einzelner westdeutscher Landesverbände mit ostdeutschen Kollegen auf dem Bundeskongress deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) im Februar 2019 in Aschaffenburg. Der VS Ostbayern unter der Leitung von Dr. Marita A. Panzer hatte das Projekt einer Lesewanderung bereits 2015 erprobt und dabei beste Erfahrungen gesammelt. Zusammen mit tschechischen Schriftstellern war eine Abordnung des VS Ostbayern von Regensburg nach Pilsen gewandert. „Die Texte der dazugehörigen Anthologie hatten wir auch in die Sprache des Nachbarlandes übersetzen lassen,“ erinnert sich Carola Kupfer. „Es war eine überaus spannende Erfahrung, den eigenen Text ausdrucksvoll von einem tschechischen Kollegen gelesen zu hören.“
„Es ist uns ein Anliegen, die Landesverbände des VS in Ostdeutschland zu stärken“ erklärt Arwed Vogel, Vorsitzender des VS Bayern. „Nachwuchs können wir im VS Bayern zwar auch gebrauchen, doch in Sachsen-Anhalt zum Beispiel dürfte der Altersdurchschnitt der Mitglieder etwa bei sechzig Jahren liegen.“ Dass einige der Teilnehmer aus Altersgründen nicht mehr gut zu Fuß sind, hat sich auf die Planung der aktuellen Reise ausgewirkt. Statt Wanderetappen hat Renate Sattler, Vorsitzende des VS Sachsen-Anhalt, ein abwechslungsreiches Besichtigungsprogramm zusammengestellt, das die Gäste vor allem in historische Besonderheiten der Region einführt. Eine lebendige, literarische Führung der ortsansässigen Autorin Bettina Fügemann durch den Lenné-Park von Schloss Ballenstedt lässt historische Persönlichkeiten gleichsam wiederauferstehen. In witzigem Scharfsinn verknüpft sie Vergangenheit und Gegenwart. Die Besichtigung des Klopstockhauses in Quedlinburg, der Gedenkstätte des Homo erectus in Bilzingsleben und und ein Besuch des monumentalen Panoramagemäldes in Bad Frankenhausen, mit dem Werner Tübke die Geschichte des Bauernkrieges festhielt und selbstbewusst interpretierte, geben unterwegs reichlich Gesprächsstoff. Wanderfreudige Kollegen kommen mit einem Abstecher durch den thüringischen Grenzwald zum Kyffhäuserdenkmal trotzdem auf ihre Kosten.
Unterwegs und bei Tisch kommt der Austausch nicht zu kurz. Interessiert hören die Autoren voneinander, wie sie ihre Romane konzipieren, erweisen einander Wertschätzung und geben sich gegenseitig Tipps im Umgang mit Verlagen, aber beispielsweise auch zum Erstellen einer eigenen Website. Im Gespräch spielt die unterschiedliche Wahrnehmung der Einzelnen bezüglich der jüngeren deutschen Geschichte eine nicht unerhebliche Rolle. „Die Unterschiede verblassen.“ findet Johann Maierhofer (Regensburg). „Mit der Zeit wird man wohl weniger zwischen Ost und West unterscheiden, eher nach Eigenheiten der Regionen.“ Dennoch nehmen die Teilnehmer zwischendurch Empfindlichkeiten wahr.
„Ich denke, die Verschiedenheiten werden uns doch noch länger beschäftigen“ meint Charis Haska. „Aber ich finde es wichtig, einander aufmerksam und vorurteilsfrei wahrzunehmen. Wir müssen nach und nach lernen zu akzeptieren, dass die Einstellungen auf beiden Seiten nicht die gleiche Prägung haben.“
Selbstverständlich wird auch über gegenwärtige politische Entwicklungen diskutiert. So beklagt beispielsweise Elke Strauchenbruch, dass rechtspopulistische Strömungen zunehmend gängige Begriffe demokratiefeindlich besetzen. „Wir als Schriftsteller haben eine besondere Verantwortung, unsere Stimme zu erheben.“ schaltet sich Bettina Fügemann erhitzt ein. „Wir dürfen denen doch nicht einfach das Feld überlassen. Ich zum Beispiel höre oft den Deutschlandfunk. Und wenn mich ein Thema berührt, dann melde ich mich dort durchaus auch zu Wort, sei es durch einen Leserbrief oder mit einem Anruf.“
Einen glanzvollen Abschluss findet die Lesereise am Abend des 22.9. auf Schloss Allstedt, einer Wirkungsstätte Thomas Müntzers. Alle zwölf Autoren kommen verteilt auf zwei Räume noch einmal vor einem großen, interessierten Publikum mit ihren Texten zu Wort.
„Die vergangenen Monate haben deutlich gezeigt, wie sinnvoll Verbandsarbeit ist“ stellt Arwed Vogel fest. Immer wieder haben wir beim Ministerium vorgesprochen, um die Künstlernothilfe voranzutreiben. Gut, dass wir dabei auf bestehende Verbandsstrukturen zurückgreifen konnten. Es war erschreckend, zu sehen, wie Künstler anderer Richtungen, die nicht organisiert sind, sich oft schwer getan haben. Aber es muss noch viel geschehen. Freiberufliche Künstler sind durch die Krise häufig ans Existenzminimum gedrängt.“
Vorüberlegungen für weitere solche Unternehmungen gibt es schon. Zur nächsten Lesereise will 2022 oder 2023 der VS Bayern die Kollegen aus Mitteldeutschland in den Freistaat einladen. Da die Region Hochfranken durch Roland Spranger (Hof) und Charis Haska (Marktleuthen) gut vertreten war, konnte bereits angeregt werden, dass das Museum für Comic und Sprachkunst (das Erika-Fuchs- Haus) in Schwarzenbach/Saale und Abschnitte des Jean- Paul- Weges Bestandteile der Lesewanderung sein werden.
Anmerkung:
Der am 30.9.2020 für die Frankenpost anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums der deutschen Einheit fertiggestellte und eingereichte Artikel erschien erstmalig am 14.10.2020 auf meiner FB- Seite. Ob auch eine Veröffentlichung bei der FP erfolgen wird, wurde mir bislang nicht beantwortet.
Fotos:
Das Buch „… unterwegs ins Grenzenlose“
VSBayern (Hrsg.)
Kulturmaschinen Verlag, Hamburg 2020 ist im Buchhandel erhältlich:
ISBN 978-3-96763-098-5 (kart.)
ISBN 978-3-96763-099-2 (geb)
ISBN 978-3-96763-100-5 (.epub)
Fotocollage:
(von oben links nach unten rechts)
- Panorama- Museum in Bad Frankenhausen
-Tor am Schloss Ballenstedt
- Bettina Fügemann und Arwed Vogel zu Beginn der literarischen Führung durch den Lenné- Park Ballenstedt
- Schlosshof Allstedt
- Brücke Lenné- Park Ballenstedt
- Wahid Nader, Elke Bannach- Hofmann, Bettina Fügemann
- Bettina Fügemann. Blick auf Ballenstedt vom Schlosstheater aus
- Charis Haska. Lesung in St. Marien Harzgerode